Die Spur des Verraeters
folgten dem Zug oder drängten sich auf Balkonen und Hausdächern, um einen Blick auf die großen, haarigen Fremden zu erhaschen. Wie auf einem Volksfest eilten Getränkeverkäufer umher. Doch die Läden waren an diesem Tag geschlossen; der gewohnte Handel fand nicht statt. Es nieselte noch immer, doch keiner der Zuschauer suchte Schutz.
»Macht Platz!«, riefen die Fußsoldaten, die neben der Prozession marschierten und jene Gaffer zur Seite stießen, die dem Trauerzug zu nahe kamen. »Wer die Barbaren anfasst oder zu ihnen spricht, wird hingerichtet!«
Im Unterschied zu dem lärmenden Trubel auf den Straßen wirkte die eigentliche Trauergesellschaft klein und unbedeutend, zumal es der Beerdigung am Prunk japanischer Beisetzungsrituale mangelte. Es gab keine Blumen, keine Laternenträger, keine Priester, keine Trauernden in weißen Umhängen, keine Gesänge, keinen Weihrauch, keine Glocken und Trommeln. Sechs Diener, die auf Deshima arbeiteten, trugen den Sarg, der mit einem großen schwarzen Tuch verhängt war; statt weißer Trauerkleidung trugen die Männer ihre Alltagskimonos. Hinter dem Sarg schritten Vizedirektor deGraeff, Dr. Huygens und die drei anderen Holländer, die von einer Reise zu den daimyo von Kyûshû zurückgekehrt waren, denen sie ihre Ehrerbietung erwiesen hatten. Sämtliche Barbaren trugen schlichtes Schwarz. Kommandant Ohira, Dolmetscher Iishino, Hauptmann Nirin und zwanzig Wachsoldaten folgten ihnen; auch sie trugen ihre übliche Kleidung. Unmittelbar vor Sano ritten yoriki Ota und andere Beamte aus Nagasaki, denen vier Arbeiter folgten, die Stricke und Schaufeln bei sich trugen.
Sano wusste, dass die Anti-Christen-Gesetze den Holländern untersagten, die bei einer Beerdigung üblichen Riten zu vollziehen. Zum ersten Mal empfand er Mitleid für Jan Spaen, der in einem fremden Land eines gewaltsamen Todes gestorben war und dessen Beisetzung nun zu einem öffentlichen Spektakel für neugierige Fremde ausartete. Doch dieser Gedanke verflüchtigte sich rasch, als Sano den Blick über die Gesichter in der Menge schweifen ließ. Als er nach Hause geritten war, um sich für die Beisetzung umzuziehen, hatte er erfahren, dass Alter Karpfen noch immer kein Wort von Hirata gehört hatte. Soldaten hatten die Villa und die Häuser in der Gegend durchsucht und die Bewohner und Passanten vernommen. Doch niemand hatte Hirata zu Gesicht bekommen. Sano hoffte, dass sein Gefolgsmann untergetaucht blieb, bis die Klagen gegen sie beide fallen gelassen wurden. Doch er befürchtete, dass Hirata nicht so lange stillhalten konnte. Immer wieder glaubte Sano, Hiratas Gesicht in der Menge der Zuschauer zu erblicken.
Schließlich gelangte der Trauerzug zum Friedhof. Hohe Zedern umgrenzten das grasbewachsene Plateau, über das der Wind wehte. Reihen hölzerner Stöcke kennzeichneten die Stellen, an denen die Barbaren begraben waren. Die Trauergesellschaft blieb neben den letzten Stöcken stehen, während die Soldaten wieder dafür sorgten, dass die Neugierigen nicht zu nahe herankamen. Kommandant Ohira wich Sanos Blicken aus, während Nirin sie herausfordernd erwiderte. Doch im Moment galten Sanos Gedanken nicht diesen beiden Verdächtigen. Er schwang sich vom Pferd und wollte sich zu den Barbaren gesellen.
»Es tut uns Leid, Ihr dürft nicht dorthin.«
Mehrere Wachsoldaten traten zwischen Sano und die Holländer und drängten ihn zurück. Bei dem Gedanken, vielleicht nie mehr mit den holländischen Verdächtigen sprechen zu können, stieg Verzweiflung in Sano auf. Er stellte sich neben den grinsenden, wie immer unruhigen Dolmetscher Iishino.
Kommandant Ohira verkündete mit lauter Stimme: »Wir haben uns hier versammelt, um die sterblichen Überreste von Direktor Jan Spaen zu begraben.« Er nickte den vier Arbeitern mit den Schaufeln und Seilen zu, die sich daran machten, auf einem kahlen Flecken Erde den Boden auszuheben, während die Soldaten den Sarg in der Nähe abstellten. »Die Kameraden von Direktor Spaen werden dem Toten die letzte Ehre erweisen.« Er blickte die Holländer düster an und fügte hinzu: »Jede Bezugnahme auf den christlichen Glauben hat ernste Einschränkungen der Handelsprivilegien zur Folge.«
Dolmetscher Iishino eilte zum Grab, offensichtlich darauf bedacht, von Sano weg zu kommen. Er übersetzte den Barbaren, was Kommandant Ohira ihnen befohlen hatte. Die einstigen Gefährten Jan Spaens standen mit hängenden Köpfen neben dem Sarg, die Hüte in den Händen. DeGraeff sprach als Erster.
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