Die Spur des Verraeters
an. »Mein Leben lang ist es mir schwer gefallen, mir Freunde zu machen. In meiner Jugend wurde ich von den anderen Jungen gemieden, mit denen ich die Tempelschule besuchte, oder sie haben mir grausame Streiche gespielt. Eines Nachts zum Beispiel, als ich in tiefem Schlaf lag, trugen sie mich in meinem Bett aus dem Schlafsaal und stellten es ans Ufer des Flusses. Als ich aufwachte, fiel ich ins Wasser und wäre beinahe ertrunken. Es war meine Rettung, mein Segen, dass ich die holländische Sprache erlernt habe. Gäbe es die Barbaren nicht, wäre ich ein sehr einsamer Mensch. Und Jan Spaen war freundlich zu mir. Er hat mir von seinen Abenteuern erzählt. Er befolgte meine Ratschläge, wie er sich in Japan zu verhalten hatte. Niemals hätte ich etwas getan, das Spaen hätte schaden können.«
Sano konnte die schmerzliche Aufrichtigkeit aus Iishinos Stimme heraushören und verspürte einen unerwarteten Anflug von Mitleid für diesen Mann. Er hatte nicht gewusst, wie schlimm es Iishino traf, unbeliebt zu sein; es gab viele Menschen, denen gar nicht bewusst war, welche Antipathie sie hervorriefen, oder für die es keine Rolle spielte. Wie traurig, dass ein Japaner bei Ausländern Freundschaft suchen musste, weil seine Landsleute ihm aus dem Weg gingen.
»Vielleicht wärt Ihr beliebter, würdet Ihr Euch nicht so herrisch und kleinlich verhalten«, meinte Sano.
Die großen Augen des Dolmetschers blinzelten erstaunt. »Aber es ist meine Pflicht, die Leute zu verbessern, wenn sie irgendetwas falsch machen«, sagte er mit selbstgerechtem Beiklang. »Wenn sie meinen Rat nicht zu würdigen wissen, liegt es daran, dass sie entweder zu empfindlich oder zu stolz sind, aus meinem überlegenen Wissen Nutzen zu ziehen.«
»Ihr solltet nicht immer davon ausgehen, dass Ihr es seid, der überlegenes Wissen besitzt«, erwiderte Sano, wenngleich er die Sinnlosigkeit des Versuchs erkannte, Iishinos Einstellung zu ändern. Diesem Mann schien es bestimmt zu sein, ein Leben ohne Freunde führen zu müssen. »Ihr könnt nicht immer Recht haben.«
»Ich erlaube mir, anderer Meinung zu sein – zumindest in Eurem Fall, sôsakan-sama .« Iishino grinste selbstgefällig. »Denn Ihr hättet meine Warnung beherzigen sollen, den Barbaren nicht zu nahe zu kommen. Hättet Ihr auf mich gehört, würdet Ihr jetzt nicht in solchen Schwierigkeiten stecken.«
Iishino nickte Sano zu und eilte den Hügel hinauf zum holländischen Friedhof. Als Sano ihm nachdenklich hinterherschaute, kam ihm eine andere mögliche Erklärung für die Taten dieses Mannes in den Sinn. War Iishino so erzürnt über die nahezu allgemeine Zurückweisung seiner Ratschläge und die Ablehnung seiner Person, dass er in Sano ein geeignetes Ziel gefunden hatte, an den Menschen Rache zu nehmen? Waren Iishino und Ohira lediglich Marionetten von Statthalter Nagai und Kammerherr Yanagisawa?
Oder war Iishino ein Verbrecher, der versuchte, seine Schuld zu verbergen, indem er den Mann vernichtete, der ihn bloßstellen konnte?
Sano band sein Pferd los und ritt die Straße hinunter zur Stadt. Inzwischen war der Nachmittag angebrochen; Kiyoshi hatte nun reichlich Zeit gehabt, über seine prekäre Lage nachzudenken. Vielleicht war er jetzt bereit, die Wahrheit darüber zu sagen, weshalb er am gestrigen Abend an der Höhle der Schmuggler gewesen war. Und vielleicht gab er Sano jene Antworten, die dieser von den anderen Verdächtigen nicht bekommen hatte.
24.
I
hr dürft Kiyoshi besuchen, wenn Ihr es wünscht, aber erwartet nicht, dass er mit Euch redet«, sagte der Wächter, als er Sano durch das Gefängnis von Nagasaki führte. »Seit er hier ist, hat er kein Wort gesprochen.«
Zu beiden Seiten der schummrigen Gänge des Gefängnisses befanden sich eisenbeschlagene Türen in den schmuddeligen, rau verputzten Wänden. Hinter vielen dieser Türen erklangen das Jammern und Wehklagen der Verurteilten, von denen die meisten auf ihre Hinrichtung warteten. Es stank nach Exkrementen, fauligem Essen und Krankheit. Wachmänner patrouillierten über die Gänge, hämmerten an die Türen und befahlen den Gefangenen, still zu sein. Sano sah plötzlich sich selbst und Hirata hinter einer dieser Türen und wehrte sich gegen dieses schreckliche Bild. Er würde ihre Namen reinwaschen, und Kiyoshi würde ihm dabei helfen.
»Hier drinnen ist er«, sagte der Wärter und schob den Riegel vor einer der Türen zur Seite. »Ruft mich, wenn Ihr fertig seid. Dann komme ich und führe Euch wieder hinaus.«
Sano
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