Die Spur des Verraeters
Hinterhof und rannte nach links. Ein Wächter kam aus dem Hinterausgang eines Hauses, und Sano huschte in die Deckung eines Baumes. Schließlich erreichte er sein Ziel und spähte durchs Fenster.
In Inneren des Behandlungszimmers stand Dr. Huygens an dem Tisch, an dem er die Leiche Jan Spaens obduziert hatte. Nun lag ein junger, offenbar bewusstloser Mann auf diesem Tisch; sein Körper war mit einem Laken bedeckt. An der Wand lehnte ein einziger Wachsoldat; er stand mit dem Rücken zur Eingangstür. Binnen weniger Augenblicke war Sano im Inneren des Behandlungsraumes, schlang dem Wachsoldaten den rechten Arm von hinten um den Hals und nahm ihn in einen Würgegriff. Der Patient erwachte nicht, doch Dr. Huygens stieß einen erschreckten Schrei aus.
»Still!«, sagte Sano mit rauer, angestrengter Stimme und bemühte sich, seinen um sich schlagenden Gefangenen im Klammergriff zu halten. Er drückte fester zu. Der Wachsoldat hustete und keuchte; dann erschlaffte sein Körper, als er das Bewusstsein verlor. Sano ließ den Mann zu Boden gleiten, schloss die Tür und wandte sich Huygens zu. »Warum habt Ihr mich belogen?«
Dr. Huygens gab gar nicht erst vor, als würde er Sano nicht verstehen. Kurz schloss er die Augen hinter den Brillengläsern; dann stieß er einen Seufzer aus, in dem sich Bedauern und Erleichterung mischten. »Ich nicht wollte, dass Ihr mich für den Mörder von Spaen haltet«, sagte er und befestigte einen Verband, den er dem jungen Mann um den Oberschenkel gewickelt hatte. »Ich hatte Angst.«
Sano erinnerte sich an die seltsame Unbeteiligtheit, mit der Dr. Huygens die Leiche Spaens untersucht hatte. Und als Huygens bei Spaens Beerdigungsfeier sagte: »Mögen uns all unsere Sünden vergeben werden«, hatte er entweder für das Seelenheil des Ermordeten gebetet oder um die Vergebung seiner eigenen Sünde, Jan Spaen getötet zu haben. Hatte er Sano geholfen, weil er an die Gerechtigkeit glaubte, oder um sich selbst zu schützen?
»Ihr habt mit Spaen gekämpft, bevor er ermordet wurde«, sagte Sano. »Weshalb?«
Huygens zögerte; dann nahm er Sano beim Arm und führte ihn in eine Ecke des Behandlungzimmers, wo ihr Gespräch den Patienten nicht stören konnte. Entweder wusste Huygens nicht, dass Sano alle Befehlsgewalt auf Deshima verloren hatte, oder das alles spielte keine Rolle mehr für ihn, weil er endlich gestehen und sein Gewissen erleichtern wollte. »Ich wollte aus der Ostindischen Kompanie ausscheiden«, sagte Huygens, »aber Spaen ließ es nicht zu.«
Dann erzählte der Arzt Sano die Geschichte seiner verpfuschten Jugendzeit und von den späteren Jahren der Reue und Wiedergutmachung; er berichtete, wie Jan Spaen Macht über ihn erlangt und diese Macht zum eigenen Vorteil genutzt hatte. »Ich nicht wollte Franz Tulp töten.« In Huygens’ Augen lagen ein gequälter Ausdruck und die stumme Bitte an Sano, ihm zu glauben. »Ich war betrunken, rasend, wie von Sinnen. Tulp und ich gekämpft. Ich zu fest habe zugeschlagen. Er gefallen.«
Der Arzt verstummte und nahm einen tiefen, zittrigen Atemzug, als würde er aufs Neue die Schrecken dieses längst vergangenen Tages erleben. Ströme von Schweiß liefen ihm über das gerötete Gesicht. Sano behielt die Tür im Auge und wartete mühsam beherrscht, dass Huygens endlich fortfuhr. »Dann kam Jan Spaen«, sagte der Arzt. »Er hat Leiche von Franz Tulp gesehen … und mich, die blutige Pfeife in eine Hand. Ich hatte schreckliche Angst, Spaen würde rufen die … die …«
»Polizei«, sagte Sano.
Huygens nickte und fuhr hastig fort: »Aber Spaen sagte, er hilft mir. Wie hoben Leiche auf und trugen sie fort. ›Und wenn uns jemand sieht?‹, ich fragte Spaen. Er sagte: ›Ruhe bewahren. Abwarten.‹ Dann kam Karren mit Pferde angefahren, sehr schnell. Spaen und ich warfen Leiche von Tulp auf Straße. Pferde, Karren – alles über Tulp hinweggerollt. Spaen und ich davongerannt. Wir hörten, wie Karren stehen blieb. Leute riefen: ›Ein Unfall, ein Unfall!‹«
Tatsächlich hatte Huygens später gehört, dass die Behörden den Vorfall nachgeprüft hatten und zu dem Ergebnis gelangt waren, dass es sich um einen Unfall von der Art gehandelt hatte, wie er auf holländischen kermis-Festen schon des Öfteren geschehen war: Ein betrunkene Jugendlicher war gestürzt und unter einen Karren geraten, der von ebenfalls betrunkenen, jugendlichen kermis- Besuchern gefahren worden war. Huygens’ Saufkumpane hatten aus Angst vor Strafe geschwiegen.
Sano
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