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Die Spur des Verraeters

Die Spur des Verraeters

Titel: Die Spur des Verraeters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Joh Rowland
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sehen; Sano erinnerte sich noch von seinem ersten Besuch an die ausgedehnte Veranda vor dem Eingang und den großen Balkon an der südlichen Mauer. Nördlich des Hauses standen die kleinen Häuschen, in denen sich die Schreibstuben der Offiziere und Dolmetscher befanden; dann kam das Gebäude, in dem die Holländer ihre Waren verkauften, die feuersicheren Lagerhäuser und schließlich die Stallungen. Nirgends war eine Bewegung zu sehen.
    Sano blickte zu Ohiras Wohnhaus hinüber. Es mochte sich als schwierig erweisen, in das Haus einzudringen, ohne gesehen zu werden, doch sollte sich einer der Schreiber des Kommandanten im Haus aufhalten, konnte es sich eher als Segen denn als Hindernis erweisen.
    Mit forschen Schritten ging Sano zur Tür, als wäre er ein Wachsoldat mit einem offiziellen Auftrag. Über die Veranda gelangte er in einen schummrig erleuchteten, leeren Flur mit papierenen Wänden, die mittels Längspfosten verstärkt waren, niedriger Decke und Holzfußboden. Im ersten Zimmer auf der rechten Seite erklang plötzlich das Rascheln von Papier. Einen Schritt vor der Tür erstarrte Sano und lauschte.
    Über ihm knarrte die Decke: Jemand befand sich im ersten Stock. Das Erdgeschoss hingegen schien leer zu sein – bis auf dieses eine Zimmer. Ein verstohlener Blick ins Innere ließ Sano einen großen Raum mit einer Studierecke erkennen, die sich auf einer erhöhten Plattform im hinteren Teil des Zimmers befand. Der Raum war mit einem großen, mit vielen Schubladen versehenen Schreibpult, Truhen aus Eisen, Schränken aus Holz und einer Reihe kleinerer Schreibpulte möbliert. An einem dieser Pulte kniete ein junger Samurai; er hatte Sano das Profil zugewandt und schrieb irgendetwas auf eine papierene Rolle, das Gesicht vor Konzentration verzogen.
    Sano verspürte einen Anflug wehmütiger nostalgischer Gefühle, als er bei diesem Anblick an seine eigene Karriere als Schreiber und Gelehrter erinnert wurde. Dann schob er diese Gedanken entschlossen beiseite, zog sein Kurzschwert, betrat das Zimmer und schloss leise die Tür hinter sich. Mit gleitenden Schritten näherte er sich dem jungen Samurai, der die Erinnerungen an diese friedlichen, längst vergangenen Tage in Sano wachgerufen hatte. Der Schreiber blickte auf. Ein entsetzter Schrei erstarb ihm auf den Lippen, als Sano ihn am Kragen packte und ihm die Schwertklinge an die Kehle drückte.
    »Wenn du schreist, stirbst du«, raunte Sano dem jungen Mann ins Ohr.
    Starr vor Entsetzen, sagte der Schreiber mit zittriger Stimme: »Ja, Herr.« Sein Gesicht war weiß geworden, und Schweißperlen standen ihm auf der Stirn. Sano konnte spüren, wie der magere Körper zitterte. Er flehte zu den Göttern, diesen unschuldigen jungen Burschen nicht töten zu müssen.
    »Wo sind die Akten, auf denen die Waren vermerkt sind, die Direktor Spaen mit dem Schiff nach Japan gebracht hat?«, fragte Sano mit leiser, ruhiger, aber Respekt einflößender Stimme. Als Kommandant von Deshima trug Ohira die Verantwortung dafür, Verzeichnisse sämtlicher Handelsgüter anzufertigen, die von den Barbaren nach Japan eingeführt wurden.
    Der Schreiber schluckte schwer. Seine schnellen, verängstigten, keuchenden Atemzüge klangen überlaut in der Stille. Sano warf einen besorgten Blick zur Tür; es war immerhin möglich, dass die Beamten im Obergeschoss irgendetwas gehört hatten und nachschauen kamen. »Sei nicht so laut, dann geschieht dir nichts«, sagte Sano und nahm die Klinge von der Kehle des jungen Burschen, hielt ihn aber immer noch am Kragen. »Zeig mir die Unterlagen, und ich lass dich los.«
    »Da … da drüben …« Die zitternde Hand des Schreibers wies auf die Studierecke im hinteren Teil des Zimmers, wo eine lange Schriftrolle auf Kommandant Ohiras Schreibpult lag.
    »Sind sämtliche Waren auf dieser Schriftrolle vermerkt?«, fragte Sano.
    »Ja. Ja!«
    Die eine Hand immer noch am Kragen des Schreibers, schob Sano sein Schwert in die Scheide. Dann band er die Schärpe des jungen Mannes los und fesselte ihm mit dem einen Ende die Handgelenke, mit dem anderen die Knöchel.
    »Nein«, jammerte der Schreiber, »bitte …«
    Sano knüllte ein Bündel Papier zusammen, stopfte es dem jungen Burschen in den Mund und erstickte seine Stimme. Dann eilte er zu Kommandant Ohiras Schreibpult und schaute sich die Rolle genauer an. Das Verzeichnis der Waren war zwei Jahre zuvor angefertigt worden, wie das Datum zeigte, und umfasste chinesische Seide, englische Wolle und indische Baumwolle; Felle

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