Die Spur des Verraeters
Nirin loswerden konnte, ohne einen Kampf auf Leben und Tod führen oder befürchten zu müssen, dass der Hauptmann Alarm schlug, sobald er außer Gefahr war. Sano beschleunigte seine Schritte und zwang auch Nirin, schneller auszuschreiten.
»Wohin bringt Ihr mich?«, fragte der Hauptmann.
Sano führte Nirin zu dem Brunnen, an dem die Wasserträger noch immer ihre Eimer füllten. »Aus dem Weg«, befahl er den Männern, die sich um den Brunnen scharten. Dann starrte er Nirin an. »Springt hinein.«
Nirin wand sich in Sanos Griff und stieß ein ungläubiges Lachen aus. »Niemals! Ihr habt ja den Verstand verloren!«
Wieder drückte Sano mit der Schwertspitze zu, und Nirin gab sich endlich geschlagen. Fluchend stieg er auf den gemauerten Brunnenrand und zögerte, doch ein kräftiger Stoß Sanos beförderte den Hauptmann in den dunklen Schacht. Nirins Schrei wurde leiser, je tiefer er stürzte. Dann war ein lautes Platschen zu vernehmen, und Nirins Schreie drangen dumpf aus den Tiefen des Schachts: »Hilfe! Hilfe«
Stadtbewohner strömten herbei, um zu sehen, wer in den Brunnen gefallen war. Polizisten erschienen und riefen nach einem Seil und starken Männern, die helfen sollten, den Unglücklichen zu retten.
In der allgemeinen Verwirrung huschte Sano davon, bevor jemand etwas bemerkte oder ihn aufhalten konnte, und schlug den Weg zum Daikoku-Tempel ein.
31.
D
er Daikoku-Tempel stand an einem bewaldeten Hügelhang am Stadtrand von Nagasaki, unweit der großen Fernstraße, die ins Landesinnere führte. Zwischen den doppelten Querbalken des Torii-Tores befand sich eine Tafel aus Stein, in die der Name des Glücksgottes Daikoku eingemeißelt war.
Sano bewegte sich inmitten eines Stroms aus Pilgern durch das Tor: Händler und Handwerker, gemeine Bürger und Samurai mit ihren Familien. All diese Menschen waren gekommen, um für den wahrscheinlichen Krieg mit den Holländern den Segen des Gottes zu erbitten. Sano stieg eine steinerne Treppe zum inneren Bereich des Heiligtums hinauf, eine von Zypressen umstandene Lichtung. Ein gepflasterter Gehweg führte zum Hauptgebäude des Tempels. Pilger drängten sich vor Ständen, an denen Erfrischungen und Andenken verkauft wurden. Ein steinernes Standbild des Daikoku – eine dickliche, lächelnde Gottheit – trug einen Sack voller Schätze sowie den magischen Holzhammer, mit dem er besiegelte, wenn er einem Bittsteller einen Wunsch gewährte. Inmitten von Blumen und anderen Opfergaben saß der Gott auf zwei Ballen Reis, an denen zwei aus Stein gehauene Ratten knabberten – die irdischen Boten des Daikoku. Priester in weißen Gewändern und viereckigen schwarzen Hüten gingen durch die Menge. In der frischen Bergluft lag der schwere, süßliche Duft von Weihrauch. Über das Lachen von Kindern, das Stimmengewirr, das Pochen von Holzsohlen und Gebetsgesänge hinweg war der tiefe, reine Klang einer Glocke zu hören. Die Sonnenstrahlen durchstachen die Wolkendecke wie die Speichen eines schimmernden silbernen Fächers. Als Sano an einem steinernen Becken die rituelle Handwaschung vornahm, hob die heitere Atmosphäre des Tempels seine gedrückte Stimmung. Seine Probleme erschienen ihm mit einem Mal in weiter Ferne; beinahe vergaß er sogar, dass er dem Mann, den er in diesem Tempel suchte, schreckliches Leid zufügen musste.
Nachdem Sano mehrere Male den Blick über das Gelände hatte schweifen lassen, entdeckte er Kommandant Ohira schließlich an einem Stand, an dem hölzerne Gebetsstäbe, Glück bringende Figuren, Süßigkeiten und farbige, aus Papier gefaltete Kraniche verkauft wurden, Symbole für ein langes Leben. Ohira war allein; in seinem tristen, beinahe düsteren Aufzug wirkte er inmitten der farbenfroh gekleideten Familien fehl am Platze. Als Sano zu dem Stand ging, kaufte Ohira sich einen Gebetsstab, tauchte einen der Tuschepinsel, die für die Kunden bereitlagen, in ein Fässchen, und schrieb ein Gebet auf den Stab. Er war so in die Arbeit vertieft, dass er es gar nicht bemerkte, als Sano neben ihm erschien.
»Beschütze uns vor dem Bösen und mach, dass unsere Sorgen von der Zufriedenheit und dem Glück vertrieben werden«, las Sano, als er dem Kommandanten über die Schulter blickte. Nach dieser Bitte folgten die vielen Namen der großen Familie Ohiras. Es war ein auf den ersten Blick banaler, unter diesen Umständen jedoch anrührender Bittspruch. Sano war zuwider, was er tun musste; auf der anderen Seite hatte Kommandant Ohira es nicht anders verdient.
Erst
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