Die Spur des Verraeters
an deGraeff heran.
Für einen Augenblick drohte deGraeffs Fassade der Gelassenheit zu zerbröckeln; dann hatte er sich wieder in der Gewalt. »Ich. Ich war sein Partner. Er hat keine Familie.«
Sano blieb so nahe vor deGraeff stehen, dass ihm der übel riechende Atem des Mannes ins Gesicht schlug. »Habt Ihr ihn deshalb ermordet? Wegen des Geldes?«
DeGraeff schoss aus seinem Stuhl hoch. »Ich habe Spaen nicht ermordet!« Mit einem Mal war seine gespielte Höflichkeit verschwunden. Vor Zorn liefen seine Wangen rot an.
»Setzt Euch!«, befahl Sano. Obwohl er erschreckt und ein wenig verängstigt war, wich er keinen Zoll vor dem hoch gewachsenen Barbaren zurück. »Ihr habt gestanden, gegen die Gesetze Eures Heimatlandes verstoßen und in die eigene Tasche gewirtschaftet zu haben. Weshalb solltet Ihr da vor einem Mord zurückschrecken?«
Mit einem verärgerten Seufzer nahm deGraeff wieder Platz, schlug die Beine übereinander und verschränkte die Arme vor der Brust. »Jan Spaen«, sagte er schließlich und starrte an die Decke, ohne Sano oder Iishino eines Blickes zu würdigen, »besaß nur zehntausend koban auf seinen eigenen Namen. Er mochte Frauen und das Glücksspiel. Er hat sich auf riskante Geschäfte eingelassen und oft große Summen dabei verloren. Er konnte sein Geld besser ausgeben als sparen. Ich hätte viel mehr gewinnen können, wäre unsere Partnerschaft bestehen geblieben, als Spaen für eine so armselige Summe zu ermorden. – Also, darf ich mich jetzt wieder meiner Arbeit zuwenden? Die Wachsoldaten sagten mir, das Schiff sei eingetroffen. Es gibt viel zu tun. Und jetzt, wo Spaen tot ist, muss ich alles allein erledigen.«
Sano hielt zehntausend koban nicht für ›armselig‹; in Japan konnte ein Mann mit dieser Summe ein ganzes Leben in Luxus und Wohlstand führen. »Wie wäre es vonstatten gegangen, hättet Ihr weiterhin von der Partnerschaft mit Direktor Spaen profitiert?«, fragte er und ließ sich seine Furcht vor einer weiteren beängstigenden Konfrontation mit dem Barbaren nicht anmerken. »Weshalb konntet Ihr Spaens Geld nicht dazu benutzen, neue Waren zu kaufen und dann ohne Euren alten Partner weiterzumachen?«
»Keiner von uns beiden hätte allein erreichen können, was wir gemeinsam geschafft haben. Unsere Zusammenarbeit war hervorragend.«
»Aber Ihr und Spaen habt Euch vor kurzem wegen dieser privaten Geschäfte gestritten, nicht wahr?«, fragte Sano.
Der Barbar nahm das Bild, das auf seinem Schreibpult lag, und drehte es um. Es war ein kleines Ölgemälde, das eine gepflasterte, von gemauerten Häusern gesäumte Straße zeigte. DeGraeff betrachtete das Gemälde, während er Iishinos Übersetzung lauschte. Schließlich legte er das Bild zur Seite, diesmal mit der bemalten Seite nach oben. »Spaen und ich haben uns oft gestritten«, sagte er. »Er war ein reizbarer, aufbrausender Mann – genau wie ich. Aber zum gegenseitigen Nutzen haben wir unsere Streitigkeiten jedes Mal bereinigt.«
Behauptest du , ging es Sano durch den Kopf. Vor Zorn und Unruhe hatte deGraeff geschwitzt, sodass der Gestank, den sein Körper verströmte, noch schlimmer war als zuvor. »Gab es auch Streitigkeiten zwischen Jan Spaen und Dr. Huygens?«
»Ich habe die Aufgabe, für den reibungslosen Ablauf der Geschäfte zu sorgen«, antwortete deGraeff. »Die privaten Beziehungen zwischen meinen Landsleuten gehen mich nichts an.«
Ist diese ausweichende Antwort ein Zeichen der Loyalität gegenüber den anderen Barbaren?, fragte sich Sano. Wusste deGraeff tatsächlich nichts über die persönlichen Beziehungen seiner Landsleute? Oder gab es einen anderen Grund, dass er nicht darüber reden wollte? Sano konnte nicht glauben, dass es in den zwei Jahren auf Deshima, in einer beinahe gefängnisähnlichen Umgebung, keine Streitigkeiten zwischen den Barbaren gegeben hatte oder dass deGraeff nichts davon wusste. Einmal mehr erkannte Sano, welch ein großes Hindernis sein mangelndes Wissen über die holländische Kultur war.
»Was habt Ihr in der Nacht getan, als Direktor Spaen verschwand?«, fragte er.
»Ich habe gearbeitet. Hier, in diesem Zimmer. Dann bin ich zu Bett gegangen. Die Wachen können es bezeugen. Sie haben die ganze Zeit vor der Tür meiner Unterkunft gestanden.«
Sano ahnte, dass die Wachsoldaten deGraeffs Geschichte bestätigen würden, selbst wenn sie nicht der Wahrheit entsprach – und dies aus zwei möglichen Gründen. Zum einen würden die Wachen sich selbst der Vernachlässigung ihrer
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