Die Spur des Verraeters
meinte Ohira mit anklagender Stimme. »Ist das klug?«
Sano musste an den Schwur denken, den er geleistet hatte, und fragte sich unbehaglich, ob es so ausgelegt werden konnte, dass er sich des Verbrechens schuldig machte, ›holländische über japanische Interessen zu stellen‹, nur weil er einem hungrigen Mann Essen und Trinken beschaffte. Hatte er schon wieder einen falschen Schritt getan, nachdem er die Besatzung des holländischen Seglers besänftigt hatte? Doch Sano konnte in den seltsamen blassen Augen des Barbaren die Erleichterung lesen, endlich einem vernünftigen und zugänglichen japanischen Beamten gegenüberzustehen. Vielleicht war deGraeff allein schon aus Dankbarkeit zur Zusammenarbeit bereit.
»Wann und wo habt Ihr Jan Spaen das letzte Mal gesehen?«, fragte Sano.
Iishino übersetzte für deGraeff, der Barbar antwortete, und Iishino übersetzte für Sano. »Gestern Abend bei Sonnenuntergang. Beim Abendessen hier im Gemeinschaftsraum.«
»Was habt Ihr und Eure Gefährten nach dem Essen getan?«
»Ich bin auf mein Zimmer gegangen. Ich ging davon aus, auch die anderen würden ihre Unterkünfte aufsuchen. Das ist der gewohnte Ablauf eines Abends auf Deshima. Es gab ein schreckliches Unwetter, deshalb bin ich den ganzen Abend in meiner Unterkunft geblieben.«
Auch ohne Holländisch zu verstehen, interpretierte Sano den müden, ein wenig gelangweilten Tonfall des Barbaren richtig: DeGraeff hatte diese Frage offenbar schon viele Male beantwortet. »Habt Ihr draußen irgendetwas Ungewöhnliches gehört oder gesehen?«
»Nur Regen und Donner.«
»Habt Ihr gewusst, dass Direktor Spaen Deshima verlassen hatte, oder wohin er wollte?«
»Nein, er hat mir nichts gesagt«, übersetzte Iishino, während deGraeff das Kinn auf die knochigen Hände stützte.
»Wie lange habt Ihr Direktor Spaen gekannt?«, fragte Sano. »In welchem Verhältnis habt Ihr zu ihm gestanden?«
In den Augen des Barbaren spiegelten sich keinerlei Emotionen, als er antwortete. »Die beiden haben sich vor zehn Jahren in Batavia, Indonesien kennen gelernt«, übersetzte Iishino. »DeGraeff war damals Schreiber bei der Ostindischen Kompanie, und Spaen war der stellvertretende Direktor der dortigen Handelsniederlassung. Sie haben Waren aus Europa gegen Gewürze eingetauscht und diese Gewürze dann auf der ganzen Welt verkauft. Die Ostindische Kompanie war sehr zufrieden mit den Gewinnen, die Jan Spaen und deGraeff erzielt haben. Sie wurden befördert und nach Japan versetzt.«
»Wart Ihr und Spaen befreundet?«, fragte Sano, an deGraeff gewandt.
In deGraeffs Lächeln lag ein Anflug von Häme. Unter der höflichen Oberfläche dieses Mannes spürte Sano einen unerbittlichen, ja rücksichtslosen Charakter und eine Antipathie gegenüber den Menschen im Allgemeinen. »Natürlich. Sonst hätten wir die Kompanie ja nicht gebeten, uns gemeinsam nach Japan zu versetzen, als wir Indonesien verlassen haben.«
»Was ist ›privater Handel‹?«, fragte Sano.
Falls deGraeff über diese Frage erstaunt war, ließ er es sich nicht anmerken. Sein Blick blieb fest, seine Haltung gelassen. »Die Agenten der Ostindischen Kompanie kaufen und verkaufen Waren oft auf eigene Rechnung, wenn sie auf Reisen gehen und mit den Kunden der Kompanie verhandeln. Das ist der private Handel.«
»Ihr benutzt kostenlos die Schiffe der Ostindischen Kompanie, um diese Waren zu befördern, und ihr Händlernetz, um die Waren zu vertreiben? Ihr liegt in geschäftlichem Wettstreit mit dem eigenen Arbeitgeber, ohne dass er davon weiß?« In Sanos Ohren hörte sich das höchst zweifelhaft, wenn nicht ungesetzlich an. »Verletzt Ihr damit nicht das Monopol der Kompanie im Ostindienhandel?«
»Die Kompanie bezahlt uns ein so dürftiges Gehalt, dass wir etwas dazuverdienen müssen.«
Endlich sah Sano ein mögliches Motiv für die Ermordung Spaens. »Also habt Ihr und Direktor Spaen bei Eurem privaten Handel eigene Gewinne gemacht?«
Diesmal zögerte der Barbar mit der Antwort, nachdem Iishino die Frage Sanos übersetzt hatte, doch seine Miene blieb gelassen. »Ja. Aber ich wüsste nicht, was Euch das angeht. In Japan gibt es kein Gesetz, das den privaten Handel untersagt. Euren Kaufleuten ist es egal, ob sie mit der Ostindischen Kompanie oder mit Einzelpersonen Geschäfte machen. Und Euren Shogun interessiert es genauso wenig, solange ein Anteil in seine eigene Kasse fließt.«
»Wer erbt Jan Spaens Anteil an den Gewinnen?« Sano, der die Antwort bereits ahnte, trat näher
Weitere Kostenlose Bücher