Die Spur des Verraeters
Pflichten für schuldig erklären, wenn sie deGraeffs Aussage nicht bestätigten. Außerdem konnte Sano sich nicht vorstellen, dass deGraeff die Leiche Direktor Spaens ohne fremde Hilfe beseitigt hatte. Ein oder mehrere Japaner mussten bei dem Mord eine Rolle gespielt haben – zumindest, indem sie dem Täter Rückendeckung gegeben hatten. Doch Sano verbannte diesen unwillkommenen Gedanken in einen Winkel seines Hirns. DeGraeff hatte ein ausreichendes Motiv, den Mord an Spaen zu begehen. Jetzt brauchte Sano nur noch den Beweis für seine Schuld.
»Ich bitte um Verzeihung, aber ich muss jetzt Eure Unterkunft durchsuchen«, wandte er sich an deGraeff.
»Er hat nichts dagegen, sagte er, denn er hat nichts zu verbergen«, übersetzte Iishino, nachdem der Barbar geantwortet hatte.
Sano durchsuchte deGraeffs Schreibstube, entdeckte aber lediglich Geschäftsbücher, Schreibzeug, eine Pfeife und einen Tabaksbeutel. Es gab keine Reiseandenken und keine Jagdtrophäen, wie Direktor Spaen sie besessen hatte. Was hatte die enge Bindung zwischen zwei so ungleichen Männern bewirkt – von der Geldgier einmal abgesehen? Von deGraeffs Schreibstube ging Sano in die angrenzende Schlafkammer hinüber, in der die gleiche nüchterne, kalte Atmosphäre herrschte wie in der gesamten Unterkunft dieses Mannes. In den Schränken und Truhen befand sich nur das Nötigste an abgetragener Kleidung.
»Das ist alles, was er hat – und alles ist da, alles da«, sagte Iishino. »Mehr besitzt er nicht.«
DeGraeff und Kommandant Ohira standen mit steinernen Mienen im Türeingang und beobachteten Sano und Iishino.
»Was ist das?«, fragte Sano den Dolmetscher und hielt Papiere in die Höhe, die er im Nachtschränkchen gefunden hatte. Alle trugen das rote Siegel des japanischen Zensors; das Gesetz verlangte, dass ausländische Dokumente erst eingesehen werden mussten, bevor sie nach Japan durften.
Iishino kam zu Sano geeilt und ließ den Blick über die Papiere schweifen. »Briefe von deGraeffs Vater«, sagte er schließlich. »Er liegt im Sterben und bittet seinen Sohn, nach Hause zu kommen, Priester zu werden und seine Stelle in der Dorfgemeinde einzunehmen.«
Der Mangel an Hinweisen entmutigte Sano. Kein verräterischer Gegenstand, keine verräterische Zeile, kein Blut, keine mögliche Tatwaffe. Sano schaute unter dem Futon nach, unter dem Bett, unter den anderen Möbeln; er suchte Fußboden und Wände nach verborgenen Geheimfächern ab – vergebens. Schließlich trat er ans Fenster, schaute auf den Hof. Der Boden sah hart und glatt aus, und die stets hungrige Kuh der Barbaren mampfte friedlich und sorgte dafür, dass das Gras immer kurz blieb. Auch die Erde im Gemüsegarten wies keinerlei Fußspuren oder Ähnliches auf. Doch Sano vermutete, dass bei der Suche nach vergrabenen Beweismitteln interessante Dinge zu Tage kämen.
DeGraeff sagte irgendetwas, und Iishino übersetzte. »Er fragt, ob Ihr endlich überzeugt davon seid, dass er Direktor Spaen nicht ermordet hat.«
Ganz und gar nicht, beantwortete Sano die Frage im Stillen, war aber gezwungen, seine zeitweilige Niederlage einzugestehen. Es würde nicht leicht sein, den Mörder zu identifizieren – und den Holländer zu überführen. Sano gelang es nicht, sich gegen das heftige Verlangen zu wehren, das ihn immer wieder dazu trieb, Gefahren für Leib und Leben einzugehen. Welche grausamen Götter hatten ihm seine gefährliche Neugier verliehen? Diesen Wunsch, stets die Wahrheit zu ergründen?
Der Diener erschien mit einem Tablett voller Speisen, die der Barbar hungrig beäugte.
»Nun, sôsakan-sama? «, sagte Kommandant Ohira. »Glaubt Ihr immer noch, das Rätsel lösen zu können?«
Mit Mühe hielt Sano den Zorn aus seiner Miene und seiner Stimme. »Das ist vorerst alles«, wandte er sich an den Holländer. Dann nickte er dem Diener zu, der das Tablett mit den Speisen vor deGraeff auf dessen Schreibpult stellte.
»Schaut Euch einmal an, wie dieser Barbar isst«, sagte Iishino kichernd.
Wenngleich Sano den Dolmetscher und dessen Kommentare leid war, blickte er dennoch zum Schreibpult und beobachtete, wie deGraeff das Essen hinunterschlang. Statt die Suppe bedächtig aus der Schüssel zu trinken, schlürfte er sie aus einem Holzlöffel. Statt Essstäbchen zu benutzen, stopfte er sich den Reis, den Fisch und das Gemüse mit den bloßen Fingern in den Mund. Zwischen den Bissen nahm er lautstark gewaltige Schlucke Wasser und Reiswein. DeGraeffs ungehobelte Tischmanieren stießen Sano
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