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Die Spur des Verraeters

Die Spur des Verraeters

Titel: Die Spur des Verraeters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Joh Rowland
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graue Uniform, in der er wie ein unnahbarer Fremder wirkte. In Junkos Innerem schlug eine Alarmglocke an. Dann aber lächelte Kiyoshi, und der vertraute jugendliche Überschwang belebte seine Züge. Junkos Furcht verwandelte sich in Freude, und sie erwiderte Kiyoshis Lächeln.
    »Es ist sehr schön, dich zu sehen, Junko«, sagte Kiyoshi, »aber du bist ein großes Wagnis eingegangen, dass du hierher gekommen bist. Wenn dein Vater davon erfährt, wird er dich verprügeln. Außerdem treibt sich Gesindel auf den Straßen herum, und in den Hügeln gibt es Gesetzlose. Du hättest diesen Verbrechern in die Hände fallen können. Versprich mir, in Zukunft vorsichtiger zu sein.«
    »Ich verspreche es«, sagte Junko glücklich und ergriff seine Hand.
    Am meisten liebte Junko an Kiyoshi, dass er sich mehr um andere Menschen sorgte als um sich selbst. Er beschützte einfache Leute vor pöbelnden Samurai, auch wenn die Kameraden sich über sein weiches Herz lustig machten. Er arbeitete lange Stunden im Wachturm und bei der Hafenpatrouille; er studierte das Waffenhandwerk und die holländische Sprache – nicht um des eigenen beruflichen Vorankommens willen, sondern um seinem Vater Ehre zu machen, Kommandant Ohira, dem Befehlshaber der Wachtruppen auf Deshima, und seinem Gönner, Statthalter Nagai, und seinem Lehrer, Dolmetscher Iishino. Kiyoshi konnte seinen Rang, seine Freunde, ja seine ganze Zukunft verlieren, wenn jemand herausfand, dass er eine verbotene Besucherin empfing und darüber seine Pflichten vernachlässigte. Doch Junkos Sicherheit war ihm wichtiger als alles andere.
    Warum sieht Vater nicht ein, dass diese Eigenschaften Kiyoshis viel wertvoller sind als Reichtum?, fragte sich das Mädchen. Und wann sah Kiyoshis Vater, Kommandant Ohira, endlich ein, dass kein anderes Mädchen aus angesehener Familie seinem Sohn eine so liebende und ergebene Gemahlin sein würde wie Junko?
    Gemeinsam stiegen sie die Treppe bis zu der kleinen, quadratischen Kammer an der Spitze des Turmes hinauf. Unter dem Fenster lagen Kiyoshis Fernrohr, sein zusammengefalteter Umhang und sein Strohhut; daneben sah Junko eine Öllampe und Kiyoshis holländisches Wörterbuch, in dem er während seiner einsamen Wachstunden studierte.
    Plötzlich fühlte Junko sich seltsam befangen. Sie ging zum Fenster und schaute hinaus. Die Stadt und das Meer erstrahlten im warmen goldenen Licht des späten Nachmittags. Dann schob sich ein Wolkengebirge vor die Sonne, und die Landschaft wurde grau, kalt und konturlos. Und so wie die Stadt und der Hafen sich veränderten, spürte Junko, wie auch mit Kiyoshi eine Veränderung vor sich ging; er schien sich mit einem Mal innerlich von ihr zu entfernen, statt wie üblich zu versuchen, seine Gedanken und Gefühle mit ihr zu teilen. Junko drehte sich um, wollte die seltsame Kälte zwischen ihnen vertreiben.
    »Kiyoshi …«, sagte sie zögernd.
    »Was?« Er lächelte knapp, doch sein Gesicht blieb ernst, beinahe düster. Dann schaute er zur Seite und sagte: »Du kannst nicht lange bleiben, Junko. Gleich kommt der Leutnant auf seiner Inspektionsrunde hier herauf. Wenn er dich bei mir findet, kommen wir beide in große Schwierigkeiten.«
    Zum ersten Mal war Junko unsicher, was Kiyoshis Liebe zu ihr betraf. Lag es daran, dass sie einander so lange nicht gesehen hatten? »Was ist mit dir?«, fragte das Mädchen und spürte, wie ihr ein kalter Schauer über den Rücken lief. Sie streckte die Hand nach Kiyoshi aus, ließ den Arm dann aber sinken. Sie wollte nicht betteln, wollte sich nicht an ihn klammern und dadurch ihre Würde verlieren. Junko fragte sich, wie sie auf andere Weise herausfinden konnte, ob Kiyoshi sie noch liebte. Dann fiel ihr ein, dass sie auch deshalb zu ihm gekommen war, um ihm Neuigkeiten mitzuteilen.
    »Der sôsakan des Shogun hat mit meinem Vater gesprochen«, sagte sie. »Er interessiert sich für die geheimnisvollen Lichter. Wenn wir sie fangen wollen, bevor der sôsakan es tut, müssen wir uns beeilen. Hast du schon irgendetwas darüber erfahren?«
    Zuerst antwortete Kiyoshi nicht. Dann sagte er, ohne Junko dabei anzuschauen: »Ich weiß jetzt, was diese Lichter sind.«
    Freude durchströmte Junkos Inneres wie Wasser aus einer reinen Quelle, das alle Zweifel davonspülte. »Du meinst, du hast die Geister gesehen? Oh, Kiyoshi, dann sind alle unsere Probleme bald gelöst!« Glücklich klatschte Junko in die Hände – bis Kiyoshi sich ihr zuwandte und das Mädchen voller Bestürzung den Ausdruck der

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