Die Spur des Verraeters
können – sie durfte seine Zukunft nicht gefährden. Sie ließ sich von ihm helfen, durchs Fenster und auf die Leiter zu steigen. Als sie die Sprossen hinunterkletterte, warf sie im schwindenden Licht des Tages einen Blick nach oben, betrachtete ein letztes Mal Kiyoshis Gestalt.
Nach einem raschen Winken und einem gequälten Lächeln wandte er sich vom Fenster ab und verschwand aus Junkos Sichtfeld.
»Hallo! Ist jemand da oben?«, rief Sano, als er die gewundene Treppe im Inneren des Wachturms hinaufstieg.
Von seinem Pferd behindert, hatte er Junkos Spur im Wald verloren. Doch in dieser Einsamkeit war der Wachturm der einzige Ort, an den das Mädchen sich begeben haben konnte. Sano rief seinen Namen und seinen Titel, damit der Posten auf dem Turm ihn nicht irrtümlich für einen Angreifer hielt. Als er schließlich durch die Öffnung im Fußboden stieg und die kleine Kammer an der Turmspitze betrat, sah er sich einem jungen Mann gegenüber, der ihn in sprachlosem Staunen anstarrte.
»Du bist Kiyoshi, nicht wahr?«, fragte Sano, kaum weniger verwundert. Er konnte sich von der gestrigen Begegnung am Strand noch an den Jungen erinnern. »Der Sohn von Kommandant Ohira.«
Kiyoshi schluckte schwer. »Ich … ich habe den Leutnant der Wache erwartet«, sagte er; dann verbeugte er sich eilig. »Verzeiht, dass ich Euch nicht angemessen begrüßt habe, sôsakan-sama . Erlaubt mir, Euer Diener zu sein.«
»Ich suche nach einer jungen Dame namens Junko«, sagte Sano und fragte sich, weshalb Kiyoshi so unruhig war. »Sie ist die Tochter des Kaufmanns Urabe. Hast du sie gesehen?«
»Nein!« Kiyoshi ging rückwärts zum Fenster, nahm das Fernrohr vom Boden und umklammerte die lange metallene Röhre, als wollte er sich daran festhalten. »Ich meine … ich habe niemanden gesehen.«
»Ich habe hier oben Stimmen gehört«, entgegnete Sano.
»Das war ich. Ich habe geübt. Ich … ich lerne die holländische Sprache.« Kiyoshi wies auf das Buch, das unter dem Fenster lag. »Ich habe geübt, wisst Ihr.«
Irgendwo tief unter ihnen erklang ein dumpfes Geräusch, das sich wie ein Aufprall anhörte. Als Sano den besorgten Blick sah, den der Junge aus dem Fenster warf, ging er zu ihm, schaute ebenfalls in die Tiefe und sah die Leiter. In den Sträuchern am Fuß des Turmes bemerkte er eine flüchtige Bewegung.
»Kennst du Junko?«, fragte er Kiyoshi.
»Nein! Das heißt … es könnte sein, dass ich sie in der Stadt schon mal gesehen habe. Aber bekannt sind wir nicht miteinander.«
Kiyoshi log tapfer und blickte seinem Gegenüber fest in die Augen, doch Sano erkannte auf Anhieb die Wahrheit. Kiyoshi und Junko hatten ein verbotenes Liebesverhältnis, und sie hatten sich vorhin erst hier im Turm getroffen. Sano verspürte Mitleid mit dem jungen Paar, dem eine gemeinsame Zukunft verwehrt war. »Ich wollte Junko fragen, was sie über die geheimnisvollen Lichter im Hafen weiß«, sagte Sano, erkannte dann aber, dass auch Kiyoshi ihm vielleicht Auskunft darüber geben konnte, als er das plötzliche Erschrecken in den Augen des jungen Mannes sah. »Hast du hier im Turm schon einmal die Nachtwache gehalten?«
»Einige Male.« Unruhig befingerte Kiyoshi das Fernrohr. »Aber nicht oft. Ich verrichte meinen Nachtdienst meist bei der Hafenpatrouille.«
»Dann hast du sicher auch schon die Lichterscheinungen im Hafen gesehen«, meinte Sano. »Weißt du, wie sie entstehen? Was sie sind?«
Kiyoshi warf einen hastigen Blick aus dem Fenster. »Nein. Ich meine … Ich habe diese Lichter noch nie gesehen. Ehrlich gesagt glaube ich nicht, dass es sie gibt. Wahrscheinlich hat ein Betrunkener sich eingebildet, irgendwelche Leuchterscheinungen auf dem Wasser erblickt zu haben, und hat seinen Freunden davon erzählt. Inzwischen glaubt jeder in Nagasaki, er hätte diese Lichter mit eigenen Augen gesehen – und jeder hat irgendeine Erklärung parat, um was es sich dabei handelt.« Er lachte, doch es war eher ein heiseres Krächzen. »Ihr wisst ja, wie das ist.«
Sano wusste nur zu gut, wie rasch Gerüchte sich verbreiten und die Einbildung sich in greifbare Wirklichkeit verwandeln konnten, doch er hatte keine Erklärung dafür, weshalb Kiyoshi so sehr darauf bedacht war, die Existenz der Leuchterscheinungen zu leugnen, ja, sie als lächerliche Einbildung abzutun. Als Sano aus dem Fenster schaute, sah er, dass der Wachturm ein idealer Beobachtungsposten war, der eine weite Sicht auf die Stadt, den Hafen, den Himmel und das Meer gewährte.
»Darf
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