Die Spur des Verraeters
ich mal einen Blick durch dein Fernrohr werfen?«, fragte Sano.
»Gewiss, sôsakan-sama .«
Offensichtlich froh darüber, dass Sano endlich das Thema wechselte, reichte Kiyoshi ihm das Instrument und erklärte dessen Funktionsweise. Sano richtete es aus dem Fenster und spähte durch die Linse, wobei er das Fernrohr schwenkte und den Blick über die Landschaft und den Horizont schweifen ließ. Das Bild war unscharf; deshalb drehte er an einem Ring, der mit einem Gewinde versehen war und mit dessen Hilfe man die Länge des Rohres verändern konnte. Das Bild wurde scharf. Der Himmel hatte eine intensive azurblaue Farbe angenommen, die sich in ein warmes, strahlendes Gold verwandelte, je weiter Sano das Fernrohr nach Westen schwenkte, wo Wolkenberge am Himmel trieben; jeder noch so kleine Wirbel, jede Farbschattierung war deutlich zu erkennen. Am Fuß des Hügels erblickte Sano einen Schwarm Vögel, der über den Bäumen kreiste; Sänften und die winzigen Gestalten von Fußgängern bewegten sich durch die Straßen der Stadt. Die Schiffe im Hafen schienen so nahe zu sein, dass Sano instinktiv die freie Hand hob, um sie zu berühren. Draußen auf See erblickte er den holländischen Segler; die Masten und Segel waren deutlich auszumachen. Für einen Moment überkam Sano eine düstere Vorahnung, als er die überlegene Technik jener Zivilisation bewunderte, die dieses Fernrohr hervorgebracht hatte. Die Mannschaft und der Kapitän des Segelschiffes mussten inzwischen Sanos Nachricht von dem Mord an Jan Spaen erhalten haben. Wie würden sie darauf reagieren?
Sano richtete das Fernrohr auf Deshima. Er sah Wachsoldaten an den Ufern und auf der Hauptstraße der Insel patrouillieren. Beinahe konnte er die Schriftzeichen auf den Warnschildern lesen, die rings um Deshima auf Pfählen aufgestellt waren.
»Von hier oben hast du eine wundervolle Aussicht«, sagte er und reichte Kiyoshi das Fernrohr zurück. »Sag mal, hattest du auch in der Nacht hier oben Wache, als Direktor Spaen verschwand?«
Unruhig wechselte der junge Mann das Instrument von einer Hand in die andere und hätte es beinahe fallen lassen. Dann hielt er es wie einen Schild vor die Brust und antwortete: »Wenn ich mich recht entsinne … ja.«
»Ist dir in dieser Nacht etwas Ungewöhnliches auf Deshima aufgefallen?«
Einen erschreckten Ausdruck in den weit aufgerissenen Augen, schüttelte Kiyoshi den Kopf. Sein Adamsapfel hüpfte auf und ab.
»Hast du irgendwelche verdächtigen Aktivitäten beobachtet? Waren Boote vor der Insel auf dem Wasser? Haben Leute Deshima auf ungewöhnliche Weise betreten oder verlassen?«
Wieder schüttelte Kiyoshi den Kopf. Dann stieß er hervor: »Verzeiht, sôsakan-sama , aber in der Nacht ist der Hafen sehr dunkel. Man kann kaum erkennen, was dort vor sich geht. Erst recht nicht bei einem Unwetter, wie in der fraglichen Nacht. Und ich … es könnte sein, dass ich eingeschlafen war. Oder mich zu sehr in meine Studien vertieft hatte. Tut mir Leid, dass ich Euch nicht helfen kann.«
Sano, den die Erklärungen Kiyoshis nicht überzeugten, bohrte noch einmal nach, doch der Junge blieb bei seiner Behauptung. Schließlich verabschiedete Sano sich von Kiyoshi. Es war offensichtlich, dass der junge Bursche irgendetwas wusste, mochte er es noch so sehr abstreiten. Sano erinnerte sich, wie aufgeregt und ängstlich Kiyoshi gewesen war, als er Spaens Leiche am Strand gesehen hatte. Allmählich gelangte Sano zu der Überzeugung, dass die Lichter irgendetwas mit dem Mord an Jan Spaen zu tun hatten, zumal die Erwähnung der Leuchterscheinungen bei Kiyoshi die gleiche Reaktion ausgelöst hatte wie der Anblick des toten Holländers.
Falls sich keine anderen Spuren ergaben, die zum Mörder führen konnten, würde Sano den Jungen noch einmal vernehmen müssen – aber diesmal viel strenger und schärfer.
13.
A
ls Sano in die Stadt zurückkehrte, leuchtete der Himmel im Westen in einem intensiven Orange. Von rosa und lavendelfarbenen Wolkenbergen eingerahmt, warf die untergehende Sonne ein strahlend rotes Licht übers Meer, sodass die Schiffe auf einem See aus Blut zu treiben schienen. In den Straßen leuchteten die Laternen über Toren und hinter Fenstern. Hügel und Klippen wurden konturlos und verwandelten sich in mächtige, jedoch stofflose Barrieren, die sich vergeblich gegen die heraufziehende Dunkelheit stemmten. Sano erreichte das Wachhaus auf Deshima, als gerade zehn Taucher zur Küste geschwommen kamen.
»Habt ihr die Pistole oder das
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