Die Spur des Verraeters
Erfahrungen in geschäftlichen Dingen«, hatte Urabe geschimpft, als Junko ihm von ihrer großen Liebe erzählte. »Seine Familie würde ohnehin nicht in eine Ehe zwischen euch einwilligen. Der Junge ist zwar nicht wohlhabend, aber er stammt aus einer bedeutenden Samurai-Familie. Vergiss diesen Burschen.«
Doch Junko hatte lieber ihre vierzehn Jahre wohl behüteter und sorgsamer Erziehung vergessen und rebelliert. Fast ein Jahr lang hatte sie sich heimlich mit ihrem Geliebten getroffen, wann immer sein Dienstplan es erlaubte und sie sich von zu Hause davonschleichen konnte – bis ihr Vater Junko vor zwei Monaten dabei erwischt hatte, wie sie aus dem Fenster gestiegen war.
»Ich werde dich lehren, dich wie eine Hure zu benehmen!«, hatte Urabe getobt und Junko durch das ganze Haus gejagt, einen Bambusstock in der Hand.
Junko schluchzte, als der Vater sie gepackt hatte und es Schläge auf ihr Hinterteil hagelte. »Bitte … Vater, ich liebe ihn! Wir wollen heiraten!«
»Du heiratest den Mann, den ich für dich aussuche!«
Nach diesem Vorfall hatte Urabe eine Anstandsdame eingestellt, die Junko immer und überall im Auge behielt. Außerdem hatte er die Suche nach einem geeigneten Ehemann verstärkt. Und was Junko betraf, versuchte sie zu verbergen, dass der Vater ihr beinahe das Herz gebrochen hatte; sie betete zu den Göttern, dass er es sich anders überlegte und doch noch in die Heirat einwilligte.
Am heutigen Tag jedoch war Junkos Sehnsucht nach ihrem Geliebten so groß geworden, dass sie versuchen wollte, zu ihm zu flüchten – und dafür gab es einen Grund: Junko hatte mitgehört, worüber der sôsakan-sama und ihr Vater gesprochen hatten. Dann war sie der Anstandsdame entkommen und aus dem Chinesenviertel geflüchtet.
Nun rannte sie an den Mauern vorüber, hinter denen die Sommervillen der reichen und mächtigen daimyo lagen. Bald darauf hatte Junko diese prachtvollen Anwesen hinter sich gelassen, die sich an die Hügelhänge schmiegten, und eilte über eine schmale, gewundene Gasse, die sich den oberen Teil des Hügels hinauf bis in den Wald schlängelte. Die Luft wurde kälter und dünner. Junkos Herz schlug wild in ihrer Brust, und ihre Lungen schmerzten; dennoch verlangsamte sie ihre Schritte nicht. Nachdem sie mehrere Abkürzungen durch den Wald genommen hatte, über Felsbrocken hinweg geklettert und am Rand steil abfallender Klippen entlanggelaufen war, erreichte sie endlich ihr Ziel.
Der Wachturm war ein hohes, schlankes Bauwerk mit spitzem Ziegeldach – einer von vielen ähnlichen Türmen, die auf den Kuppen der Hügel um Nagasaki errichtet worden waren. In den von Wind und Wetter gezeichneten Holzwänden befanden sich auf verschiedener Höhe schmale, vergitterte Fenster; nur die Kammer der Spitze des Turmes besaß ein größeres, gitterloses Fenster, das einen Blick auf den Hafen gewährte. In dieser Kammer sah Junko nun einen Lichtschimmer. Freude durchströmte sie. Er war dort oben und hielt mit seinem Fernrohr nach Schiffen Ausschau, die sich dem Hafen näherten.
Erschöpft und außer Atem, zögerte Junko unter den Bäumen am Fuße des Wachturms. Der Dunst, der aus der lehmigen, würzig duftenden Erde emporstieg, verschluckte das Licht des Tages, als würde die kühle Dunkelheit des Abends selbst aus dem Boden emporsteigen. Grillen und Heuschrecken zirpten, Vögel zwitscherten, und der kalte Wind raschelte in den Blättern der Bäume. Doch Junko entdeckte keinerlei Anzeichen dafür, dass ein menschliches Wesen in der Nähe war. Rasch schlüpfte sie durch die Eingangstür des Wachturms und stieg die Treppe hinauf, die sich im Inneren des Turmes spiralförmig in die Höhe wand.
Aus der Kammer an der Spitze des Turmes rief eine junge männliche Stimme: »Wer ist da?«
»Ich bin’s, Kiyoshi!«, rief Junko voller Freude zurück.
Sie hörte, wie Kiyoshi mit raschen Schritten die Treppe herunterkam. Beinahe schluchzend vor Glück, eilte Junko ihrem Geliebten entgegen. Auf halber Höhe des Turmes – neben einem Fenster, durch welches das sterbende Licht des Tages auf die schmale Treppe fiel – trafen sie sich. Zwei Stufen unter Kiyoshi blieb Junko stehen und genoss seinen Anblick.
Er sah so wunderschön aus wie immer, doch sein jungenhaftes Gesicht war irgendwie gealtert, seit sie sich das letzte Mal getroffen hatten: In seinen Augen waren Schatten zu erkennen, die ihm eine ernste Reife verliehen und ihn viel älter erscheinen ließen als die fünfzehn Jahre, die er zählte. Hinzu kam seine
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