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Die Spur des Verraeters

Die Spur des Verraeters

Titel: Die Spur des Verraeters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Joh Rowland
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Kleiderbündel zur Seite. Anstelle des Geldes, wie Pfingstrose erwartet hatte, sah sie ein Messer in der Hand des Mannes und las die mörderische Entschlossenheit in seinen Augen. Plötzlich saß Pfingstrose ein Klumpen in der Kehle, sodass sie für einen Moment keinen Laut hervorbekam. Ihr Hochgefühl wich grellem Entsetzen. Sie taumelte zurück, hob die Hände in einer flehenden Geste.
    »Nein … bitte … nehmt es … und geht«, stieß sie abgehackt hervor.
    Ohne einen Laut von sich zu geben, kam der Mann näher, bis Pfingstrose mit dem Rücken gegen die Wand prallte. Im gleichen Augenblick ließ der Mann das Messer vorschnellen.
    Die lange, schimmernde Klinge durchtrennte Pfingstroses Kehle. Der Schmerz war so furchtbar, dass sie alles nur noch wie durch einen roten Nebel sah. Sie versuchte um Hilfe zu schreien, brachte aber nur noch ein gurgelndes Geräusch hervor. Eine warme, salzig schmeckende Flüssigkeit füllte ihren Mund, strömte in ihre Lungen. Sie riss die Hände empor und presste sie auf die Kehle; Blut strömte über ihre Finger. Schwindel und Schwäche überkamen sie. Alle Kraft schwand aus ihren Gliedern, und sie rutschte mit dem Rücken an der Wand zu Boden und blieb in verkrümmter Haltung am Boden sitzen. Von grellem Entsetzen erfüllt beobachtete sie, wie der Mann sich umdrehte und sich vorbeugte, um in die Schachtel zu greifen.
    Es waren Pfingstroses letzte Sinneswahrnehmungen. Schlagartig wurde es dunkel um sie herum, und alle Geräusche verstummten. Pfingstrose konnte nur noch das erbarmungslose Pochen ihres Herzens spüren, als es das Blut aus ihrem Körper pumpte. Plötzlich sah sie sich wieder als Mädchen von acht Jahren, das eine Gasse hinunterrannte, eine gestohlene Puppe in den Armen. Damals war sie unversehrt entkommen. Diesmal aber, in einem anderen Traum, wurde sie von einer wütenden Meute gejagt: Soldaten und Polizisten und Stadtbewohner jagten sie mit wildem Geschrei. Pfingstrose rannte schneller, immer schneller. Dann wurde sie von starken Händen gepackt, die sie tiefer hinein in die Finsternis zogen. Sie spürte, wie ihr Herzschlag schwächer wurde.
    Dem Tod konnte auch Pfingstrose, die gerissene Diebin, nicht entrinnen.
     

16.

    D
    as Beruhigungsmittel, das Alter Karpfen Sano verabreicht hatte, war so stark, dass er bis zum frühen Abend des nächsten Tages schlief. Als er erwachte, fiel ihm als erstes das Ultimatum des holländischen Kapitäns ein. Trotz seiner Verletzung zog er sich eilig an und gab Befehl, sein Pferd zu satteln, ängstlich darauf bedacht, keine Zeit zu verlieren. Kurz darauf ritt Sano durchs Tor.
    Die Wetterlage hatte sich völlig verändert. Der Wind war abgeflaut, und die Sonne schien matt von einem dunstigen Himmel. Die meisten Schiffe, die auf der unbewegten, metallisch wirkenden Meeresoberfläche zu sehen waren, lagen mit schlaffen Segeln bewegungslos vor Anker, während Schaluppen und Fischerboote sich träge über das Wasser bewegten. Die warme Luft war so sehr mit Feuchtigkeit gesättigt, dass sie die Geräusche auf den Straßen zu dämpfen schien und von den Gerüchen nach Meerwasser, Fisch und Abwässern gesättigt war. Die Hügel, die Nagasaki umschlossen, verhinderten den Zustrom frischer, reinigender Winde.
    Doch nicht nur das Wetter hatte sich verändert. Über Nacht war Nagasaki für Sano zu einem feindlichen Territorium geworden. Jemand hatte versucht, ihn zu töten. Als er über die Straßen ritt, ließ Sano wachsam den Blick über die Menschenmengen schweifen, stets bereit, sein Schwert zu ziehen oder heransirrenden Pfeilen auszuweichen. Seine verwundete Schulter war steif und schmerzte unter dem Verband. Nie und nimmer hätte Sano sein Schwert mit der gewohnten Geschicklichkeit führen können. Überdies hatte der Blutverlust ihn geschwächt. Und die Verwaltung von Nagasaki war ihm eher ein Hindernis als eine Hilfe.
    Nachdem Kapitän Oss’ Ultimatum eingegangen war, hatte Statthalter Nagai am Abend zuvor in seinem Amtssaal ein Treffen der hochrangigsten Beamten der Stadt abgehalten. »Verdoppelt die Zahl der in Bereitschaft stehenden Truppen«, befahl er dem Kommandanten der Hafenpatrouille. »Lasst jeden Mann zusätzlichen Wachdienst verrichten, und zieht weitere Soldaten von den Villen der daimyo ab. Außerdem sollen zwei Barkassen den holländischen Segler ständig unter Beobachtung halten. Jede Stunde wird mir von einem Boten Bericht erstattet. Macht die Kriegsschiffe bereit. Errichtet Signalfeuer auf den Hügelkuppen, und

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