Die Spur des Verraeters
zwischen Herr und Gefolgsmann: Sano wehrte sich dagegen, weil eine solche Bindung die Gefahr barg, Trauer um einen Freund und den Schmerz über den Verlust eines geliebten Menschen erleiden zu müssen, falls Hirata etwas zustieß.
»Wärst du heute Abend bei mir gewesen, würdest du jetzt vielleicht an meiner Stelle hier liegen«, sagte er zu Hirata. »Die Ermittlungen sind gefährlich. Ich will nicht, dass du dich daran beteiligst.« Er hielt inne; dann fügte er zögernd hinzu: »Dir mag es egal sein, ob du Schande erleiden oder sterben musst, aber ich könnte deinen Tod nicht ertragen.«
Auf Hiratas Gesicht spiegelten sich die unterschiedlichsten Empfindungen – Besorgnis, Unsicherheit, Freude –, und für einen Augenblick lockerte sich der beständige Druck seiner Hand auf Sanos Schulter. »Ich … bitte, Ihr müsst verstehen, aber ich …«
Sano wartete schweigend, während Hirata errötete, stammelte, herumdruckste und es nicht über sich brachte, seine Empfindungen preiszugeben. Schließlich schüttelte er den Kopf und stieß hervor: »Es ist meine Pflicht, an Eurer Seite zu stehen, wenn Ihr Euch Gefahren aussetzt, und nötigenfalls mein Leben für Euch zu lassen. Tue ich das nicht, bin ich bereits mit Schande beladen. Dann bin ich bereits gestorben!« Das war offensichtlich mehr, als Hirata hatte sagen wollen – doch es war deutlich, dass er jedes Wort genau so meinte, wie er es sagte. »Und ein Samurai, der seinen Herrn nicht schützt und ihm nicht dient, ist kein wahrer Samurai.«
Von Hiratas starker Hand am Boden gehalten, unterdrückte Sano einen Seufzer. Hier in Nagasaki traten all die Probleme zu Tage, die im letzten Jahr noch im Verborgenen geschlummert hatten. Hirata hatte Sano in eine schwierige Lage gebracht: Auf der einen Seite wollte Sano ihm nicht das Recht verweigern, dem Weg des Kriegers zu folgen; auf der anderen Seite stand Sanos eigene Rolle als Hiratas Herr auf dem Spiel, denn er konnte eine einmal gefällte Entscheidung nicht rückgängig machen, ohne das Gesicht zu verlieren. Wenn Sano keinen Ausweg aus dieser Zwangslage fand, würde er sich Hirata entfremden – sofern sie die Nachforschungen in Nagasaki lebend überstanden. Der getreue Hirata würde seinen Herrn zwar nicht verlassen, ihm in Zukunft aber ohne Begeisterung dienen, ohne Hingabe, und ohne dass er mit dem Herzen bei der Sache war.
»Also gut«, sagte Sano schließlich. »Morgen wirst du überprüfen, ob Abt Liu Yun in der Mordnacht tatsächlich im Kloster war, wie er behauptet«, sagte Sano und erzählte Hirata von seinem Gespräch mit dem chinesischen Priester. »Überprüfe außerdem, wo er sich heute Abend aufhält. Und stell fest, ob er eine Pistole hat oder jemals eine Schusswaffe besessen hat.« Sano hielt inne; dann fügte er mit Nachdruck hinzu: »Aber gehe nie wieder nach Deshima. Denk nicht einmal daran. Sollte ich dich auf der Insel erwischen, schicke ich dich unwiderruflich nach Edo zurück.«
»Jawohl, sôsakan-sama .« In Hiratas Stimme lag ein Anflug von Enttäuschung. Natürlich hatte er Sanos Beweggründe durchschaut. Er wusste, dass sein Herr ihn schützen wollte, indem er ihm den Befehl gab, mit einem relativ ungefährlichen Verdächtigen zu sprechen, der weder Japaner noch Holländer war.
Alter Karpfen kam wieder ins Zimmer, legte frische Zwiebelschalen auf Sanos Wunde und nickte zufrieden. »Das müsste sehr gut ausheilen«, sagte er und legte Sano eine Art Verband aus weißen Baumwolltüchern um die Schulter, die er mit Stricken festschnürte. »Fühlt Ihr Euch schon besser?«
»Ja, viel besser«, erwiderte Sano.
Und dafür war er dankbar. Denn nun musste er Statthalter Nagai die Nachricht von der militärischen Bedrohung durch die Holländer überbringen. Und morgen musste er all seine Kraft und Klugheit aufbieten, um den Mordfall rechtzeitig zu lösen, sodass die Stadt und sein Leben verschont blieben, und dafür zu sorgen, dass die Kluft, die sich zwischen ihm und Hirata aufgetan hatte, nicht für immer bestehen blieb.
15.
A
ls die Stunde des Ebers nahte, herrschte lautes und ausgelassenes Treiben in Nagasakis Vergnügungsviertel. Auf Terrassen und Balkonen wurde gefeiert; Musik und Lachen erklangen aus Türeingängen. Samurai und gemeine Bürger strömten durch die von Laternen hell erleuchteten Straßen; Händler und Kaufleute schlenderten an den käfigartigen, winzigen Zimmern vorüber, in denen die grellbunt gekleideten Kurtisanen saßen und ihre Dienste feilboten. In jedem
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