Die Spur des Verraeters
Teehaus sangen und grölten betrunkene Zecher.
Wie in den anderen Freudenhäusern des Vergnügungsviertels, fand auch im Goldenen Halbmond ein ausgelassenes Fest statt, das die Kurtisanen mit ihren Freiern feierten. Von ihrem Zimmer aus, einem winzigen Raum im rückwärtigen Teil des ersten Stocks, konnte Pfingstrose die Musik hören, während sie vor dem Fenster hin und her schritt und unruhig die Hände rang. Kochdünste und die Gerüche von Schnaps und Urin verpesteten die frische Brise, die Pfingstroses erhitzte Wangen kühlte. Die Lampe auf ihrem niedrigen Tisch warf Pfingstroses ruhelosen Schatten an die kahlen Wände. Sie betete, dass ihr Besucher kommen möge, bevor Minami bemerkte, dass sie nicht auf der Feier war und wie üblich Getränke servierte – und womöglich einen Diener schickte, der Pfingstrose zu den Gästen holen sollte.
Den ganzen Tag hatte sie im Haus geschuftet und darauf gehofft, dass Minami sie für ihren Fleiß belohnte, indem er sie nicht in die arabische Handelsniederlassung schickte. Das Glück war Pfingstrose hold gewesen. Zwei Hausmädchen waren erkrankt, sodass Minami Pfingstrose befohlen hatte, im Goldenen Halbmond zu bleiben und die Arbeit der beiden Mädchen mit zu verrichten. Doch wenn Pfingstrose heute Abend nicht ihre Freiheit wiedererlangte, standen ihr schmerzhafte Tage voller Demütigungen bevor; außerdem ergab sich vielleicht nie wieder die Gelegenheit, ihrem jämmerlichen Leben im Vergnügungsviertel zu entfliehen. Überdies bestand die Gefahr, dass der sôsakan des Shogun die Wahrheit über Deshima und den Mord an Spaen- san entdeckte, bevor Pfingstrose Nutzen aus dem Beweisstück ziehen konnte, das in ihrem Besitz war.
Draußen erklang ein Geräusch, und Pfingstrose hielt in ihrer unruhigen Wanderung inne. Das Gesicht gegen die Stäbe des Fenstergitters gedrückt, spähte sie hinunter in die Gasse. Für ihren Besucher hatte sie die Hintertür offen gelassen; überdies brannte eine Laterne am Türeingang. Pfingstroses Herz schlug schneller, als sie sah, wie jemand in den gedämpften Lichtschein der Lampe trat. Ein Mann in einem Umhang mit Kapuze. Er hustete, und Pfingstrose erkannte, dass es dieses Geräusch war, das sie Augenblicke zuvor gehört hatte. Der Fremde blieb neben der Tür stehen und schaute sich um, ob irgendjemand in der Nähe war. Dann hob er seinen Umhang, urinierte an die Mauer …
… und ging weiter.
Pfingstrose umklammerte die Gitterstäbe vor dem Fenster, ließ sich auf die Knie sinken und schloss die Augen. Vielleicht hatte der Mann, den sie erwartete, ihre Botschaft gar nicht erhalten. Oder er konnte das Geld nicht auftreiben, das sie von ihm forderte. Die Enttäuschung legte sich wie eine eisige Hand um Pfingstroses Herz. Sie schlug die Augen auf, schaute wieder aus dem Fenster …
Die Gasse blieb leer. Das einzige Anzeichen von Leben waren das Lachen, die Gespräche und Gesänge der Feiernden in den Bordellen und Teestuben. Pfingstrose ging zum Schrank, in dem sie und ihre beiden Zimmerpartnerinnen ihre Habseligkeiten aufbewahrten. Sie musste sich beschäftigen, um das qualvolle Warten erträglich zu machen. Inmitten ihres Bettzeugs, ihrer Kleidung und anderer persönlicher Gegenstände entdeckte Pfingstrose ihren Kamm und den Spiegel. Nach einem Augenblick des Zögerns holte sie auch das mit Lackarbeiten verzierte Kästchen hervor, das ihren kostbarsten Schatz enthielt. Eigentlich hatte Pfingstrose das Kästchen im Schrank versteckt lassen wollen, bis sie von ihrem Besucher das Geld bekommen hatte, doch nun wollte sie es berühren, wollte die Hoffnung spüren, die es verkörperte.
Sie kniete nieder und stellte das Kästchen auf den Tisch neben die Lampe; dann zog sie die Nadeln aus ihrer Frisur. Die blauschwarz schimmernde Flut ihres Haares fiel Pfingstrose bis auf die Schultern. Sie nahm den Spiegel, schaute hinein und begann sich zu kämmen. Im trüben, angelaufenen Glas des Spiegels lächelte sie ihr hässliches Spiegelbild an, als sie sich ihre strahlende Zukunft ausmalte.
Sie sah sich selbst vor ihrem geistigen Auge – eine reiche Frau, die in die Empfangshalle des Goldenen Halbmonds hinunterkam. Sie hörte die Gäste johlen und rufen und sah, wie Minamis Miene sich verdüsterte. »Wo bist du gewesen, Pfingstrose?«, würde er sie anfahren. »Die Gäste wollen, dass du zu dem Lied ›Der steigende Fluss‹ tanzt!«
Und Pfingstrose würde antworten: »Ich werde nie mehr für Euch oder sonst jemanden tanzen.« Und dann würde sie
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