Die Staatskanzlei - Kriminalroman
Lippen.
„Sie kannten die beiden. Der Personalratsvorsitzende der Staatskanzlei hat es mir erzählt. Aber sagen Sie, müssen wir im Flur stehen bleiben, können wir uns nicht setzen?“
Immer noch schweigend wandte die Frau sich um und ging voraus ins Wohnzimmer. Hier herrschte Chaos, überall lagen Zeitungen herum, dazwischen Weihnachtskugeln und Kerzenhalter. Ein mickriger, schief gewachsener Tannenbaum neben der Fensterbank wartete darauf, geschmückt zu werden.
Sie ließ sich aufs Sofa plumpsen und forderte die Polizeibeamtin mit einer fahrigen Geste auf, ihr gegenüber auf dem Sessel Platz zu nehmen. „Hat er das gesagt? Es ist möglich, dass ich die beiden flüchtig kennengelernt habe. Mein verstorbener Mann war in der Staatskanzlei beschäftigt.“
Während Verena sich setzte, wanderten ihre Augen suchend durch das Zimmer. Eine Pistole war nirgends zu sehen, auch kein anderer als Tatwerkzeug geeigneter Gegenstand. Von dieser Frau ging keine Gefahr aus, jedenfalls im Moment nicht.
„Sie sollen die Beamten aufgesucht und darum gebeten haben, sich für ihren Mann einzusetzen, damit er nicht nach Stade versetzt wird.“
Der Blick der Frau wurde düster, ihre Augen wanderten unruhig zwischen Verena und der Tür hin und her. Sie wirkte wie ein gehetztes Tier. Wollte sie fliehen? „Das mag sein, ich kann mich nicht erinnern. Es liegt Jahre zurück.“
„Der sogenannte Unfall Ihres Mannes war gar kein Unfall, ihr Mann hat sich umgebracht. War es nicht so, Frau Schneider?“
Die Frau knetete die Hände ineinander. Auch ihre Augen waren noch immer in Bewegung. „Selbstmord? Wie kommen Sie denn darauf?“
„Sie selbst haben das damals bei der Polizei ausgesagt und schwere Vorwürfe gegen die Staatskanzlei erhoben.“
Das Kneten der Hände wurde schneller, die Augen flackerten jetzt unaufhörlich. Als sie nichts sagte, fuhr Verena fort: „Ihr verstorbener Mann hatte sich dem Personalratsvorsitzenden anvertraut. Der Grund seiner Verzweiflung war keineswegs nur die drohende Strafversetzung, Frau Schneider. Es ging auch um Sie. Ihre Krankheit war erneut ausgebrochen. Sie haben damals sogar Ihren Mann attackiert. Sie hatten einen Rückfall.“
Verenas Worte lösten eine unerwartete Veränderung im Verhalten der Frau aus. Sie raufte sich die Haare, sprang auf, um sich gleich wieder hinzusetzen. „Das ist eine Lüge. Ich habe meinen Mann geliebt. Die anderen waren es, die ihn dazu getrieben haben. Sein widerlicher Chef Alexander Heise und der untätige Personalchef, sie haben ihn auf dem Gewissen.“
Verena fand es beruhigend, dass sie Wagner nicht erwähnte. Offenbar stand er nicht auf ihrer Abschussliste.
Die nächsten Worte ließen Verena zusammenzucken. „Und der Regierungssprecher, dieser Herr Wagner, der hat ebenfalls nichts getan, obwohl in seiner Abteilung eine Stelle frei war.“ Das Gesicht hatte die Form einer Grimasse angenommen. Jetzt war es klar zu erkennen, vor ihr saß eine Wahnsinnige.
Verena wollte das Geständnis, jetzt gleich. Wenn sie erst einmal hinter den Mauern einer geschlossenen Anstalt verschwand, würde es sehr schwer werden.
„Ich kann verstehen, dass sie die Männer, die ihrem Mann das angetan haben, hassen, Frau Schneider. Wollen Sie nicht …?“
Maria Schneider fiel ihr ins Wort. „Verstehen? Was verstehen Sie schon. Die meisten Menschen haben keine Ahnung. Sie wissen gar nichts von
Ihnen
, können sie nicht einmal hören. Dabei sind sie ständig unter uns, auch jetzt. Sie hören uns zu, und nicht nur das. Sie können unsere Gedanken lesen, auch Ihre. Wenn ich über sie rede, heißt es, ich sei verrückt. Dabei sind es die anderen, die nicht normal sind. Sie sehen und hören nichts. Sie merken nicht einmal, dass die Welt vor dem Untergang steht. Eine Klimakatastrophe jagt die nächste: Überschwemmungen, Tornados, extreme Trockenheit. Afrika versinkt in Armut und Chaos, überall Hunger, Vertreibungen und Bürgerkriege. Es sind die Außerirdischen, die dafür verantwortlich sind. Sie strafen die Menschen, weil sie ihre Warnungen in den Wind schlagen und ihre Befehle ignorieren. Ich tue das nicht.“
„Man hat Ihnen also befohlen, die Männer zu töten?“
Maria Schneider nickte.
„Bernd Wagner auch?“
Die Mimik der Frau änderte sich, ihre Gesichtszüge entspannten sich. „Ich muss mal, bin gleich zurück“, sagte sie und stand auf.
Allein gelassen ging Verena zum Fenster, öffnete es und gab ihren Kollegen mit Gesten zu verstehen, dass sie nicht hinaufkommen
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