Die Stadt am Ende der Zeit

Titel: Die Stadt am Ende der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Bear

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begabt ist wie Sie, wird er die Nacht vielleicht überstehen. Oh, noch etwas.« Sie zog ein in braunes Papier gewickeltes Päckchen aus der Kitteltasche. »Das hier hab ich in einem Laden in der Nähe der Klinik aufgestöbert. Hab ziemlich viel Geld dalassen müssen, um den Pfandleiher dazu zu bringen, sich davon zu trennen.«

34
    Jacks Gedanken flatterten wie in einem Netz gefangene Vögel. Seit seinem Anruf waren nicht einmal fünf Minuten vergangen. Ihm blieb die Möglichkeit, den Balkon hinunterzuklettern, von dort aus auf die Veranda zu springen und durch die Gasse zu flüchten. Doch eine zuckersüße Euphorie hielt ihn davon ab. Es waren doch nur dicke Freunde, die hinter der Tür auf ihn warteten. Dick und zäh wie Melasse. Es gab keinen Grund zu flüchten oder Angst zu haben. Seine Füße waren sowieso wie angewurzelt. Jeder Weg war so gut wie der andere. Es würde in jedem Fall gut ausgehen.
    »Wir sind hier!«, rief Glaucous. »Sie haben bei uns angerufen, und jetzt sind wir hier, um Ihre drängenden Fragen zu beantworten. « Danach, fast unhörbar: »Ich glaube, ich habe ihn außer Gefecht gesetzt. Du kannst dir jetzt Zutritt verschaffen, Liebes.«
    Selbst nach dem dritten schweren Schlag gegen die Tür – es klang so, als zermalme ein Betonquader das arme Holz – hielt bei Jack das Gefühl an, alles werde sich ganz wunderbar fügen.
    Er konnte die Benommenheit so weit abschütteln, dass er einen Schritt zurücktat. Der vierte Schlag knickte die Tür so, als wäre sie aus Pappe, hob sie aus den Angeln, zerschmetterte den Türrahmen, verbog das Riegelschloss und gab dem Wind freie Bahn ins Wohnzimmer. Irgendwo quiekten Jacks Ratten. Trotz des Lärms, der Böe und der Regentropfen empfand Jack keine Angst. Er stand so da, als wären seine Füße am dünnen Teppich festgeleimt.
    Ein kleiner, strammer, aber untersetzter Mann in grauem Tweedanzug trat ein und zog sich mit dicken rötlichen Fingern die Baskenmütze vom Kopf. Sein Gesicht war so flach und rosafarben wie das einer Puppe – einer hässlichen Puppe. Den wachen Schweinsäuglein reichte ein einziger Blick, um Jack und das ganze Zimmer zu erfassen. Das aufgesetzte breite Lächeln war eher ein Zähnefletschen, dennoch strahlte er nach Jacks Eindruck Aufrichtigkeit und Menschenfreundlichkeit aus.
    »Guten Abend«, sagte er nachdrücklich. Wie selbstverständlich schien er vorauszusetzen, dass man ihm Respekt entgegenbrachte und seine Anwesenheit freudig begrüßte.
    »Hallo«, erwiderte Jack.
    Im Rahmen der zerschmetterten Tür zeichnete sich ein langer Schatten ab, dessen kräftiger Arm sich jetzt zurückzog. Am Ende des Arms saß eine bizarre Hand – die Hand eines Comic-Helden oder -Schurken mit unförmigen Knöcheln und Fingern, die sich vor Energie oder vor Schmerzen krümmten. Als der Schatten ins Helle trat, sah Jack, dass er eine sehr große Frau vor sich hatte, eine wahre Riesin, deren Länge er nicht einmal abschätzen konnte. Ihr Gesicht war so weiß wie Packeis oder Knochenporzellan. Regentropfen rannen an den Linien und Vertiefungen des bleichen Gesichts hinunter, sickerten bis zur großen stumpfen Nase, deren Löcher an dunkle Gullyschächte erinnerten. Ihre leeren trüben Augen wirkten so, als litte sie am Grauen Star. Als sich die dicken, feucht glänzenden grünlichen Lippen zu einem flüchtigen Lächeln verzogen, waren die ebenmäßigen kleinen Zähne zu sehen. Wie vertrocknetes graues Moos lugte unter ihrem grotesken flachen Hut verfilztes Haar hervor.
    Die Ratten kreischten wie verängstigte Kinder. Jack war sich sicher, dass Glaucous und seine Gefährtin Hirngespinste sein mussten – Symptome dafür, dass er endgültig den Verstand verloren hatte.
    »Sollen wir hereinkommen?«, fragte Glaucous, obwohl er bereits im Zimmer stand.
    Jack mobilisierte all seine Willenskraft, um sich noch weiter von ihm zurückzuziehen. Er konnte fast hören, wie sich die schreckliche süße Melasse an seine Sohlen heftete.
    Die Riesin duckte sich, um ins Zimmer zu treten.
    »Das ist meine Partnerin«, erklärte Glaucous. »Sie heißt Penelope. «
    Jack holte tief Luft und drehte sich halb herum, doch die kummervolle, enttäuschte Miene des Zwergs ließ ihn an Ort
und Stelle verharren. Es kam ihm so vor, als fügten sich die Dinge jetzt wie Mosaiksteine zusammen: die Windstöße, der aufgewirbelte Staub, die verblüffenden Wendungen, die an sich unbedeutende Ereignisse genommen hatten – all das wirkte zusammen, um ihm jede Bewegungsmöglichkeit