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Die Stadt am Ende der Zeit

Die Stadt am Ende der Zeit

Titel: Die Stadt am Ende der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Bear
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dessen Stelle bald ein kleiner trat, so kurz und breit wie der eines Gnoms. Gleichzeitig hämmerte jemand
so fest gegen die Tür, dass der Türrahmen und die Wand wackelten und die Vorhänge bebten.
    »Ich bin’s, Glaucous, mein lieber Junge«, rief eine raue Stimme – die Stimme, die Jack vom Telefon her kannte. »Ich habe meine Partnerin mitgebracht, damit ihr euch kennenlernt. Wir suchen Ihre Nummer gemeinsam, in Ordnung?« Als die Faust erneut zuschlug, setzte die Stimme leicht belustigt nach: »Nicht so fest, Liebes.«

33
Das grüne Lagerhaus
    Ginny ging vor der dicken Stahltür auf und ab. Schließlich legte sie das Ohr gegen das kalte, mit mehreren Farbschichten überstrichene Metall und lauschte auf die Stimmen auf der anderen Seite. Gemurmel … Auf- und absteigende Satzmelodien. Bidewell sprach mit mehreren Frauen.
    Sie konnte nur wenige Satzbrocken verstehen: »… alle hier. Zusammen …« Danach Bidewell: »Das Mädchen hat ihn nicht dabei …« Eine andere, tiefere Frauenstimme: »Pfandleihen, die üblichen …«
    Ginny zog die Brauen zusammen und reckte den Hals, um nach oben zu blicken. Durch das Dachfenster drang schwaches blaugraues Licht in ihre provisorische Unterkunft zwischen Stapeln von Lattenkisten und Pappkartons voller Bücher. Dicke Regentropfen schlugen dumpf gegen das Drahtglas der bogenförmigen Scheiben. Ein Gewittersturm braute sich zusammen, das merkte sie an der aufgeladenen, schwülfeuchten Luft. Gleich
darauf flammten in der Nähe zwei Blitze in grellem Violett auf, denen Donnerschläge folgten, die das alte Lagerhaus erzittern ließen und in der Ferne von Wolkenkratzern widerhallten.
    Sie musterte das zerknüllte Bettzeug und den angeschlagenen alten Sekretär, den sie ans Fußende ihres Feldbetts geschoben hatte, damit es nicht verrutschen konnte. Dieser Teil des Lagerhauses war weiträumig, staubig und zugig.
    Früher einmal hatte sie Regen und selbst Gewitter geliebt, doch das war vorbei. Wenigstens war der Gewittersturm diesmal nicht hinter ihr her, denn das Lagerhaus schützte sie. Nein, der Sturm verfolgte einen anderen Menschen, der so war wie sie, jemanden, der ebenfalls eine Anzeige gelesen oder eine Plakatwand an der Straße entdeckt hatte und jetzt drauf und dran war, den schlimmsten Fehler seines Lebens zu begehen. Und Ginny glaubte auch zu wissen, wer es war: der junge Mann auf dem Fahrrad, den sie auf dem Gauklermarkt gesehen hatte. Sie wünschte sich verzweifelt, sie könnte ihn warnen und herausfinden, was er wusste. Ihm, ihr und allen anderen Menschen blieb nicht mehr viel Zeit.
    Der Sturm tobte bereits.
    Letztendlich wird man uns alle von unseren Fäden abschneiden, so dass wir aufeinanderprallen.
    Bei dieser Vorstellung sog sie so heftig den Atem ein, dass sie aufstoßen musste. Sie ging weiter an der Tür auf und ab und knabberte dabei an einem Daumennagel. All ihre Nägel waren bis auf das rohe Fleisch abgenagt. Früher einmal hatte ihre Mutter erklärt, sie könne hübsche Hände haben, würde sie nur nicht an den Nägeln kauen. Da das Knabbern sie schnell zu langweilen begann, drehte sie so lange an einer Haarsträhne, bis sie ihr als lange Ringellocke über die Nase fiel.
    Jetzt reicht’s!
    Sie streckte ihre zur Faust geballte Hand zu der riesigen Schiebetür vor. Doch ehe sie dagegenhämmern konnte, knarrte die Tür und öffnete sich so weit, dass Bidewell seinen mageren Arm hindurchschieben konnte. Übertrieben stöhnend, zog er die Tür so weit zurück, bis sie gegen den Gummistopper prallte. Währenddessen setzte er das Gespräch mit den Frauen einfach fort. »Ich glaube, wir sollten die Jahrhundert-Räume dafür benutzen. Ich habe sie bewusst leer stehen lassen, es ist alles vorbereitet. Falls ihr sicher seid, dass ihr sie alle finden könnt.«
    In Bidewells persönlicher Bibliothek, die sich in der rückwärtigen Hälfte des Lagerhauses befand, saßen drei Frauen auf Sesseln mit hohen Rückenlehnen. Weiß glühende Blitze erhellten ein großes Fenster, das mit Stahlstangen gesichert war, und ließen Teile der wandhohen Bücherregale aufleuchten.
    »Wir werden sie schon finden«, versicherte ihm eine der Frauen.
    Alle Frauen waren mindestens drei oder vier Jahrzehnte älter als Ginny. Eine hatte kurzes braunes Haar und grüne Augen und trug eine lange grüne Jacke und einen braunen Rock. Sie war es, die Bidewell geantwortet hatte. Ginny wandte sich um, um die zweite Frau zu mustern, die lange rote Haare und ein hübsches rundes Gesicht hatte.

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