Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Stadt am Ende der Zeit

Die Stadt am Ende der Zeit

Titel: Die Stadt am Ende der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Bear
Vom Netzwerk:
meisterlicher Menschenfischer zog Jack Rohmer aus qualvollen trüben Gewässern.

38
West Seattle
    Während Glaucous auf der Kriechspur nach Süden fuhr und später auf die West Seattle Bridge abbog, pfiff er laut und unmelodiös vor sich hin. Immer wieder zuckte er zusammen, warf den Kopf zurück und zog eine Grimasse, als zerfleische er irgendetwas mit seinen gelben Zähnen. »Jetzt hab ich dich«, murmelte er schließlich und strich sich mit der Hand über die Braue.
    Penelope lehnte mit trägem Blick am Fenster. Eine einsame Wespe kroch über ihren Mantelkragen und blieb schwankend an einer Speckfalte ihres Halses haften. Der Regen trommelte auf das Dach des Van, und die Scheibenwischer hatten alle Mühe, gegen die Wasserflut anzukämpfen. In dieser frühen Morgenstunde herrschte auf der alten Hochstraße kaum Verkehr. Schüchtern machte im Osten die Morgendämmerung ihr Recht geltend: Ein schwaches Leuchten drang durch Feuchtigkeit und Zwielicht.
    Im Sack, der hinten im Van lag, rührte sich etwas.
    »Ah«, sagte Glaucous. »Jetzt ist es also vorbei mit der leeren Hülle, der täuschenden Fassade, wie?«
    Penelope wischte sich eine Wespe von der Nase und zerquetschte sie mit dem Daumen. Glaucous bewunderte ihre Stärke und Zähigkeit, nicht aber ihre Persönlichkeit. Eigentlich mochte Penelope nichts und niemanden. Sie war seine vierte Partnerin und mittlerweile länger mit ihm zusammen als alle früheren, mehr als sechzig Jahre. Im Gegenzug hatte das Alter sie verschont, dennoch war sie inzwischen fett und reizlos. Andere Partnerinnen vor ihr waren mit den Jahren verschrumpelt oder kleiner geworden. Seine zweite Gefährtin hatte Glaucous zuletzt in der Hosentasche mit sich herumschleppen müssen. Die Dritte war binnen weniger Tage plötzlich so ausgebleicht, als wäre sie zu lange in der Sonne gewesen, und eines Morgens einfach verschwunden. Soweit er wusste, lebte sie immer noch in dem alten Haus, in dem sie früher mit Glaucous gewohnt hatte – nicht dass jemand sie je zu sehen bekam, also spielte es auch keine Rolle.
    Penelope öffnete die Augen. »Das Ding ist wieder da, glaube ich.«
    Er sah sie prüfend an. »Wie können wir sicher sein?«
    »Es weint.«
     
    Das grobe Sackleinen saugte sich an Jacks Mund fest. Sein rauer Atem haftete mit schalem Geruch an seinem Gesicht, gab ihm jedoch Sicherheit und Trost. Ja, vielleicht würde er ersticken und sterben, doch alles war besser als der Aufenthalt an jenem Ort, in jenem ausgelaugten Land, wo nur noch Verwesung und Verzweiflung regierten.
    Jack weinte tatsächlich leise vor sich hin. Jetzt, da Glaucous ihn aus der Vorhölle gezerrt hatte, in der er der Hölle so nah gewesen war, hatten seine Tränen nichts mehr mit Tapferkeit
oder Furcht zu tun, sondern waren Ausdruck eines Kummers, der größer war als alles, was er je erlebt hatte.
    Die Materie hat allen Glanz verloren.
    Und als er sich widerstrebend an das erinnerte, was er fast durchbrochen hätte – die Membran, die dem Schorf über einer offenen Wunde ähnelte …
    »Er riecht verbrannt«, bemerkte Penelope.
    »Soll er ruhig«, erwiderte Glaucous, doch in seine Augen schlich sich ein besorgter Ausdruck. Er blickte aus dem Fenster, auf den Regen und die Blitze. Die Luft kam ihm jetzt stärker aufgeladen vor; das trübe Licht pulsierte in großen, schweren Wellen. Oder war es nur das Blut, das durch sein großes, schweres Herz pulsierte?
    Glaucous schrieb seine Sorgen in den Wind. »Wir werden ihn gründlich abschrubben. Die Hölle kann nicht schlimmer riechen.«
    »Hat nichts mit der Hölle zu tun«, erwiderte Penelope.
    In seinem Sack hörte Jack den beiden zu. Er stank tatsächlich, stank nach Verfaultem. Sich die Nase zuzuhalten nützte nichts, deshalb versuchte er, möglichst nicht darauf zu achten. Er nahm all seinen Mut zusammen und schaffte es mit enormer Anstrengung, sich mit einem Zeh in die Strömungen des Schicksals vorzutasten. In allen benachbarten Szenarien war die Lage angespannt und mit allem Möglichen belastet. Unter solchen Bedingungen neigten selbst die zähesten Weltlinien dazu, hin und her zu schwanken.
    Er befand sich in einem fahrenden Lastwagen oder Van. Und es war kein Unfall, keine Panne oder ein sonstiges für ihn günstiges Missgeschick in Sicht, das ihm hier heraushelfen würde. Er war schon zu weit auf einer ausgeprägten Linie vorangeschritten.
Alle möglichen Alternativen hielten ihn an Ort und Stelle fest – aber nicht unbedingt in einem derart gut gesicherten

Weitere Kostenlose Bücher