Die Stadt am Ende der Zeit
nackte Schulter und bückte sich, um nach ihrem Mantel zu greifen. Immer noch unbekleidet, zerrte die imposante Frau Mantel und Sack durch die Tür, wobei der Sack mehrmals hart aufschlug. Danach verlagerte sie ihn in eine Position, in der sie ihn besser tragen konnte, schleppte ihn die Treppe hinunter und setzte ihn neben den weit geöffneten Hecktüren des alten Van ab.
Es regnete in Strömen. Blitze flammten so auf, als zwinkerte ein riesiges Augenlid.
Das Kinn auf die vernarbte Hand gestützt, stand Glaucous immer noch in der leeren Wohnung und dachte über das gefaltete Papier nach, das er wie einen gefangenen Schmetterling zwischen zwei Fingern hielt. Er pfuschte wohl besser nicht
damit herum, obwohl er schon seit langem gern gewusst hätte, wie man diese Dinger faltete und was sie enthielten. Stattdessen verstaute er das Papier in der Jackentasche. Irgendetwas Wesentliches fehlte. Ja, jetzt hatten sie die Registriernummer und den Jungen. Sie hatten sogar das Kästchen, aber nicht das letzte Teilchen. Und nur, wenn er auch dieses Teilchen ablieferte, würde seine Arbeitgeberin zahlen, ihn mit Geld und Vergebung seiner Sünden entlohnen. Trotz der Wespen hatte der Junge entkommen können, einen Sprung getan und eine gefährliche Leere hinterlassen. Wenn er seine Beute nicht vollständig ablieferte, konnte das übel, sogar tödlich für ihn ausgehen.
Glaucous beugte sich über das eiserne Treppengeländer. »Penelope! «, rief er in den Regen. »Wir haben nur eine leere Hülle eingesackt. Er hat uns ausgetrickst.«
»Nein, er ist doch hier !«, schrie seine Gefährtin.
»Wir dürfen kein Risiko eingehen. Wir müssen hierbleiben und darauf hoffen, dass der Junge zurückkommt – oder ihn losschneiden.«
Penelope ließ einen dumpfen Fluch los. »Warum hast du mir das nicht gesagt, ehe ich ihn hier runtergeschleppt habe?«, jammerte sie mit der Stimme eines kleinen Mädchens, das den Tränen nahe ist.
Ein müde wirkender Mann Mitte dreißig mit schütterem Haar und Schnauzbart stieg die Treppe hoch, wobei sein Regenmantel sich öffnete und die weiße Arbeitskleidung eines Kochs enthüllte. Oben angekommen, starrte er auf die eingeschlagene Wohnungstür. Beim Klang der kindlichen Stimme, die durch den Regen drang, drehte er sich um und entdeckte Glaucous. Langsam und leicht alarmiert versuchte er sich an dem kräftig wirkenden Gnom vorbeizuschlängeln.
»Entschuldigung«, sagte Glaucous und beugte sich über das Geländer.
»Was, zum Teufel, geht hier vor?«
Glaucous warf ihm ein bizarres Lächeln zu, wich zur Seite aus und glitt rasend schnell die Treppe hinunter, wobei er die dicken Hände als Laufstützen benutzte. »Tut mir leid!«, rief er.
Als Jacks Mitbewohner den Kopf durch die zerstörte Tür steckte, sah er, dass das Zimmer voller Wespen war. Fluchend schlug er die Hände vors Gesicht, während Glaucous sich zu Penelope gesellte. »Das mit dem Jungen macht nichts. Ich werde ihn mir schon schnappen. Komm, ziehen wir los.«
Sie hatte den tropfnassen Sack mit der reglosen Gestalt inzwischen gegen eine Stützmauer des Eingangs gelehnt. Mit ausdruckslosem Gesicht streifte sie sich den Mantel über den riesigen nackten Leib.
Jack Rohmer war so weit geflohen, dass Glaucous seine Spur anfangs nicht einmal erschnuppern konnte. Aber er war sich sicher, dass Jack ihren Weg bald wieder kreuzen würde, schon aus purer Verzweiflung, aus Mangel an Alternativen. Schließlich gab es mittlerweile ja fast nur noch zum Sterben verurteilte Pfade, unendlich viele kranke Weltlinien, die nirgendwo mehr hinführten. O ja, er würde sein wundervolles Netz über die dunkel glänzenden, aufgelösten Schicksalsfäden stülpen und den vor Angst wahnsinnigen Jack mit einem weiteren gewieften Trick dazu bringen, geradewegs hierher zurückzufliegen. Alles wird gut.
Aus dem dritten Stock brüllte Jacks Wohnungsgenosse Drohungen hinunter.
Glaucous deutete auf den Sack. »Heb ihn hoch und trag ihn hier rüber. Hol ihn, Liebes.«
37
Nach und nach nahm der andere Bewohner Farbe und Textur des mit Spritzen übersäten Fußbodens, der zerfetzten Tapeten und der eingesunkenen Zimmerdecke an. Dabei gab er einen Laut von sich, als falle hartkörniger Schnee an einem dunklen Abend, der niemals enden, sich niemals wandeln würde, auf die Erde hinab. Es war die einzige Stimme, die das Geschöpf besaß. Gefangen in diesem Zimmer, hatte es ewig lange gewartet, und jetzt beklagte es sich bei dem Erstbesten, der bereit sein mochte, ihm
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