Die Stadt am Ende der Zeit
Sack, in dem es weder Risse noch Nähte gab …
»Versuch’s gar nicht erst, kleines Stinktier«, sagte Glaucous vom Fahrersitz her, und erneut schaffte es diese Stimme – die Stimme einer Mutter, die ihr aufgeregtes Kind beruhigt –, ihn mit widerlicher Süße einzulullen. Alles wird gut … Er war zu erschöpft, um dagegen anzukämpfen. Fast war es ihm willkommen, dieses zuckersüße Gefühl, dass alles seine Richtigkeit hatte, dieses geistige Rauschmittel, das alle Hoffnungen, alle Schmerzen dämpfte. »Gleich sind wir zu Hause«, bemerkte Glaucous. »Dort wird es dir gefallen.«
»Ach ja?«, sagte Penelope. Ihr Sitz ächzte gequält, als sie ihr Körpergewicht verlagerte. » Mir gefällt’s dort nämlich nicht!«
»Wir werden dir den besudelten Körper abschrubben, ehe jemand anderes den Gestank schnuppern kann. Jemand, der vielleicht voreilig und allzu ungeduldig handeln würde.« Glaucous gab ein lautes, klickendes Geräusch von sich, das tief aus der Kehle kam. Jack konnte nicht sehen, wie er das anstellte. Jedenfalls klang es so, als schnappten Hummerscheren zu.
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GEBROCHENER LOGOS
VIERZEHN NULLEN
39
Das erste Bion
Die Füße fest auf der Scheibe aus hartem, kaltem Licht verankert, sauste Ghentun zwischen den silbrig funkelnden Kanälen hindurch nach oben, mitten durch glänzende Schluchten, durchquerte den Raum zwischen den blendend hellen, kilometerhohen Mauern bis zu den höchsten Ebenen des ersten Bion – den Stadtbezirken der Großen Eidola.
Falls man den Mythen glauben durfte, hatten die Menschen früher einmal angenommen, das Universum werde wohl kaum mehr als einige zehn Milliarden Jahre überdauern. Niemand, der in der Leuchtenden Pracht gelebt hatte, im warmen und strahlend hellen Schoß der letzten Jahrbillionen, hatte ahnen können, wie lange die Geschichte sich hinziehen und wie oft sich deren grausame Muster wiederholen würden: in Form von Kriegen, die viele Milliarden oder sogar Billionen von Jahren andauern sollten, das Leben von Billiarden denkender Wesen verschwendeten und unzählige Paradiese durch die Flammen ebenso unzähliger, unsinniger Höllen verzehrten.
Dem unaufhaltsamen Aufstieg vieler Milliarden Zivilisationen zu immaterieller Gottheit war der ebenso unvermeidliche
Niedergang gefolgt, die Rückentwicklung zu einzelnen Gemeinschaften, die in geistiger Umnachtung lebten und nicht einmal wussten, was sie verloren hatten. Es waren Zyklen des Aufstiegs und Falls, vergleichbar mit dem Pulsieren eines Herzens, an dem die endlos tickende, gnadenlose Zeit zerrte.
Auch hätte niemand, der während der urzeitlichen Millennien gelebt hatte, erraten können, in welcher Weise der alternde Kosmos zerfallen und sich aufsplittern würde – so sehr, dass seine Bestandteile nach Neugestaltung, Wiederherstellung oder Ersatz verlangten; oder sich vorstellen können, dass die verschollenen Bruchstücke längst vergangener Zeiten sich losreißen, auseinanderdriften und mit der Gegenwart zusammenprallen würden.
Was das jüngste, vom Chaos überschattete Trillennium betraf, so gab es eine Fülle weitschweifiger Legenden, die das Zeitalter der Materiekriege beschrieben. Bosonische Aschuren waren von ihrem Eroberungszug durch Lichtjahre dunkler Materie zurückgekehrt und hatten sich über alle anderen erheben wollen, waren jedoch von den mesonischen Kanjuren unterworfen worden, die ihrerseits den aus Quarkintegralen zusammengesetzten Devas unterlegen waren. Später hatten die Devas sich gezwungen gesehen, das Feld den Noetikern zu überlassen. Noetische Masse war im strengen Sinn gar keine Materie – eher ein Bindemittel zwischen Raum, Schicksal und zwei von sieben Aspekten der Zeit.
Die Noetiker, die sich selbst Eidola nannten, bargen die Überlebenden der letzten künstlichen Galaxien und zwangen fast alle zur Konversion. Die letzten Überbleibsel der alten Materie wurden konserviert und zu mehreren Reliquienschreinen befördert – solchen, die die längste kontinuierliche Geschichte aufwiesen, darunter die Erde.
Nur den Dienern der alten Erde, vor allem den Instandsetzern und Gestaltern, erlaubten die Eidola, die ursprüngliche Gestalt beizubehalten. Doch viele unterzogen sich freiwillig der Konversion. Eine Zeit lang hatte selbst Ghentun der Versuchung nachgegeben, bis man ihn schließlich als Hüter angeheuert hatte. Die noetische Materie schuf ein Umfeld, das sicherer und eher von Kooperation geprägt war als andere, sorgte für effizientere Gedankenmuster und
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