Die Stadt am Ende der Zeit
Schlafende. Offensichtlich freute es die Gestalterin, dass Grayne immer noch träumen konnte, trotz all ihrer Gebrechen. Was Träume betraf, war diese alte Art zäh. Sie kniete sich nieder und legte die breiten, weichen Finger an Graynes Stirn. »Sag uns, wer sich am besten für diesen letzten Marsch eignet und wer die Reise zum Zerstörten Turm antreten soll.«
Grayne brauchte nicht zu reden, um zu antworten.
Die Gestalterin ließ sie los, und Ghentun trat vor. »Das Paar scheint eine kluge Wahl zu sein. Grayne hat immer ein gutes Urteilsvermögen besessen.«
»Ein zeugungsfähiges Paar?«
»Das haben die beiden bislang noch nicht entdeckt.«
»Wäre es klug, ein zeugungsfähiges Paar auseinanderzureißen? « Da Ghentun eine rein rhetorische Frage gestellt hatte, ging die Gestalterin nicht darauf ein. Sie war nicht in der Position,
Meinungen zu solchen Fragen zu äußern, und würde es dank städtischer Regelungen auch nie sein. Sie gestaltete nur und dachte nicht allzu viel nach. »Sie haben die verlassenen Ebenen nach Büchern durchsucht, wie sie das vor den Märschen immer tun«, erklärte sie. »Grayne hat sie zu den Regalen gelenkt, in denen die Geschichten von Sangmer und Ishanaxade am ehesten zu finden sind. Liebende, die getrennt wurden …«
»Weißt du, wovon Grayne träumt?«
»Oh, das weiß ich schon lange. Alle Ausbilderinnen haben denselben Traum, schon seit dem ersten Marsch. In ihrem Traum gehört Grayne zu einer Gruppe alter Frauen, die offenbar zu der Zeit der Leuchtenden Pracht gelebt haben. Natürlich sind die Einzelheiten nicht deutlich auszumachen, aber anscheinend befassen diese Frauen sich damit, besonders begabte Jugendliche ausfindig zu machen, genau wie Grayne und ihre Schwestern es getan haben.« Erneut berührte die Gestalterin Graynes Stirn. »Schade, sie zu verlieren, nach allem, was wir gemeinsam durchgestanden haben. Sie war mir immer besonders lieb.«
Grayne fuhr zusammen. Ihre Miene verriet eine heimliche Sorge, die nicht das Geringste mit der Anwesenheit von Ghentun und der Gestalterin zu tun hatte.
Ghentun schloss die Augen. »Dann weiß ich, wer sie ist.«
Manchmal zeigte auch die Gestalterin eine Spur von Neugier. Sie sah Ghentun an. »Wie das? Träumst du denn auch, Hüter?«
»Hol die Bücher der Ausbilderin.«
Die Gestalterin hielt kurz inne, um auf die alte Sama hinunterzublicken. Dann griff sie nach der Kiste, öffnete das Fingerabdruckschloss
und holte alle Bücher heraus. Es waren fünf; die Gestalterin klemmte sie mühelos unter ihre zahlreichen Arme. »Wir wollen sie nicht aufwecken«, sagte sie. »Ein solcher Verlust würde ihr sehr wehtun. Nicht dass ich sentimental bin.«
Sie zogen sich aus der Nische der Sama zurück. Gleich darauf trat still und bedächtig ein Düsterer Aufseher ein. Als er sein Gewand so ausbreitete, dass die Falten Grayne einhüllten, bäumte sie sich leicht auf. Doch ehe sie die Augen noch einmal aufschlagen konnte, war sie nicht mehr. Eine Gnade in Anbetracht dessen, was bald geschehen würde.
»Bring mir den männlichen Teil des Paars«, sagte Ghentun.
»Und was ist mit der Frau?«
»Sie wird am Marsch teilnehmen. Such noch weitere aus – Freunde, falls die beiden welche haben. Wir müssen die Reisegruppe, die die Sama zusammengestellt hat, so gut es geht vervollständigen und sie so schnell wie möglich ausbilden.«
43
Das Geräusch setzte als tiefer, sonorer Ton ein – ein summender Bass, der die Wände in Tiadbas Nische vibrieren ließ. Jebrassy schlug die Augen auf, fuhr mit einem Arm herum und fegte dabei eines der kostbaren Bücher von der Isoliermatte. Das Letzte, an das er sich aus den Minuten vor dem Einschlafen erinnerte, waren Tiadbas leise, regelmäßige Atemzüge, die anheimelnd und beruhigend geklungen hatten. Doch jetzt war die Matte neben ihm leer. Er setzte sich auf, lauschte auf das
Geräusch und überlegte, ob Tiadba irgendwo herumwerkelte. Wo konnte sie stecken?
Doch es war kein Arbeitsgeräusch, dazu war es viel zu laut. Es klang so, als erbebten die Ebenen und fielen auseinander. Das Vibrieren war so stark, dass Jebrassy sich kaum auf den Beinen halten konnte. Er streifte seinen Schurz über und stolperte über das verstreute Bettzeug zur Tür, die sich halb geöffnet und offenbar irgendwo verklemmt hatte. Seltsamerweise machte ihm das noch mehr Angst als das Geräusch, das immer lauter wurde. Plötzlich legte sich ein anderes Geräusch darüber, das nicht weniger beängstigend, aber höher klang,
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