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Die Stadt am Ende der Zeit

Die Stadt am Ende der Zeit

Titel: Die Stadt am Ende der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Bear
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abzuschätzen, in welcher Höhe sie sich befanden. Von dem
Anblick wurde ihm so übel, dass er sich erbrechen musste. Von Tiadba war nur noch ein Fuß zu sehen, der unter der zweiten Schwinge des Wächters hervorlugte. Doch nachdem Jebrassy seinen Magen entleert hatte, überkam ihn schicksalsergebene Gelassenheit.
    Durch die erste und zweite Insel gingen solche Schnitte, dass Dutzende von Ebenen offen lagen. Mit seltsamer Gleichgültigkeit musterte Jebrassy die zerstörten und ausgehöhlten Mauern, die schwarzen Strudel, die sich allmählich zurückzogen, und die Opfer, die in ihnen versanken. Die Luft roch faulig und zugleich verbrannt. Die Hälfte des künstlichen Himmels war verschwunden, so dass jetzt etwas enthüllt wurde, was bislang verborgen gewesen war: die Stadt oberhalb des Kunsthimmels, Elemente einer unbekannten Architektur. Sie umfasste Spiralen und silberne Bogenkonstruktionen, Mauern und Fußgängerwege. Und all das war in Bewegung, schien einen komplizierten Tanz aufzuführen, um die alte Ordnung wiederherzustellen, wollte sich erneut zusammenfügen, um den Bewohnern Schutz zu bieten. Denn natürlich lebten auch hier, oberhalb des künstlichen Himmels, Bürger von Kalpa; auch sie hatte der Überfall getroffen, mit dem Tode bedroht oder gar getötet.
    Der Wächter setzte mit Jebrassy und Tiadba über schwarze, stinkende Wolkenfetzen hinweg. Trotzdem waren sie kurz einem derart fauligen Geruch ausgesetzt, dass es Jebrassy erneut den Magen umdrehte, nur wollte der nichts mehr hergeben. Er hörte Tiadba weinen. Als der Wächter Schwingen und Arme verlagerte, um schneller fliegen zu können, hatten sie kurz Gelegenheit, einander in die Augen zu sehen. Doch in Tiadbas Mienenspiel lag etwas, das Jebrassy nicht verstand, nicht nachvollziehen konnte. Über ihre Wangen rannen Tränen,
die der Wind mit sich riss. Doch unter den Tränen lachte sie. Sie weinte und lachte zugleich – Ausdruck von Furcht und Kummer, aber auch inneren Jubilierens.
    Unvermittelt tauchte aus dem Nirgendwo irgendetwas Widerliches, Feindseliges auf, griff nach ihnen und durchbohrte ihren Beschützer, so dass er schwarz anlief und sich mit einer Kruste überzog. Als es Jebrassy berührte , empfand er das als eine solche Vergewaltigung seines Körpers, wie er sie noch nie erlebt hatte. Und der Schmerz war so unerträglich, dass er keine Worte dafür hatte.

ZEHN NULLEN

44
Puget Sound
    Der Sturm braute sich über dem Meer als dichter, dunkler Wolkenstreifen zusammen, der einem riesigen Pinselstrich glich. Nur sah der Strich so aus, als wäre hier nicht Farbe, sondern grauer Schlamm verschmiert worden. In den frühen Morgenstunden breitete er sich schnell über die Olympia-Halbinsel aus, verleibte sich alle düsteren Wolken ein, straffte seine Windspirale und gab ihr eine Richtung, sammelte und lenkte die Ladung der den Himmel zerfetzenden Blitze und brauste danach über den Puget Sound, wo er die schattenhaften Umrisse einer riesigen Gestalt formte – einer weiblichen.
    Der Schatten fegte über das Binnenland hinweg, wandte sich nach Süden und machte kehrt, als hätte er nicht gefunden, wonach er suchte. Also peitschte er die Stadt. Am erschreckendsten war nicht die ständige Regenflut, die sich über die Stadt ergoss, nein, es waren die Blitze, die stets in Serie kamen, begleitet von einem Regenbogen der Farben und explosiven Donnerschlägen, die so klangen, als traktierten hammerharte Fäuste eine Kirchenorgel.
    Die Menschen verdrehten die Köpfe. Mit abgewandtem Blick und wachsender Angst beobachteten die Einwohner, wie die Blitze greller und greller wurden und die Abstände dazwischen immer kürzer. Offenbar nicht zufrieden damit, vom Himmel direkt zur Erde zu springen, bildeten die Blitze seitliche Lichtbogen, stießen in die Schluchten zwischen den Wolkenkratzern vor, sprengten Fenster aus den Gebäuden, krochen an den Außenbalken und Stützträgern entlang, hüllten die Türme in ein mit Energie aufgeladenes Netz, um sich nahe am Boden wieder zu entladen. So mühelos, als zerteilte man Butter mit einem Säbel, schnitten sie durch kompakte Gebäude.
    Sirenen heulten auf. Löschfahrzeuge und Polizeiwagen stimmten in die ohrenbetäubende Kakophonie ein, die bis weit in den Norden, bis nach Lake Union zu hören war. Hoch am Himmel zog sich der Gewittersturm zu einem bestimmten Zweck zusammen: Er formte einen dicken Pfeil, der parallel zur Brücke der I-90 verlief, während das breite Gefieder sich über dem Lake Washington

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