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Die Stadt am Ende der Zeit

Die Stadt am Ende der Zeit

Titel: Die Stadt am Ende der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Bear
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eigentlich so, als heulten irgendwelche Geschöpfe vor entsetzlichem Schmerz auf.
    Er quetschte sich durch die enge Türöffnung und fiel im Gang auf die Knie. Fast hätte er mit der Hand in etwas Öliges, Tiefschwarzes gefasst, das sich so in den Fußboden hineingefressen hatte, als hätte jemand ein Loch in die Fundamente der Ebenen geschlagen. Und dieses Loch vergrößerte sich ständig. Er versuchte zu erkennen, was dort hineingefallen war. Flüchtig hatte er den Eindruck, er könne die Umrisse von zwei oder mehr Nachgezüchteten ausmachen, die versuchten, gegen die dunkle Strömung anzuschwimmen. Gleich darauf packte ihn etwas an der Schulter und wirbelte ihn herum.
    Der riesige Wächter füllte fast den Gang aus. Die Flügel waren eingeklappt, die starken Arme vorgestreckt. Während er Jebrassy mit einem Arm umschlungen hielt, warf er mit dem anderen ein Netz aus – ein dickes Kreuzgewebe aus leuchtenden Fasern, das sich über die schwarze Masse legte und sie für den Augenblick zurückzuhalten schien. Der Wächter zerrte ihn von der Stelle weg. »Du kommst mit mir«, sagte er mit einer
Stimme, die keinen Widerspruch duldete, obwohl sie unbeteiligt klang, und hob Jebrassy, der wie eine Marionette mit den Beinen schlackerte, vom Boden auf. Als Jebrassy den Kopf herumwarf, bekam er gerade noch mit, wie Tiadba sich an dem grauen Rückenschild des Wächters vorbeidrückte, um zur halb geöffneten Nischentür vorzustoßen.
    Ringsum wurde das Brüllen und Kreischen immer lauter, und auch Jebrassy stimmte voller Kummer mit ein. »Warum?«, rief er laut.
    Gleich darauf kehrte Tiadba auf den Gang zurück. Sie hatte einen Beutel aus der Nische geholt – ihre Bücher. Während sie dem Wächter den Rücken zukehrte, kauerte sie sich zusammen und ließ es zu, dass er nach ihr griff und sie emporhob. Aus der Höhe hatten Jebrassy und Tiadba freien Blick auf die wogende schwarze Masse am anderen Ende des Ganges, aus der immer noch Schreien und Jammern drang. Das Netz, das die Masse in Zaum hielt, hatte sich aufgelöst, so dass sie weiter vorgedrungen war. Auf dem Kamm einer dunklen Welle tauchten drei, vier, fünf Nachgezüchtete auf und so schnell wieder ab, dass Jebrassy sie nicht zählen konnte. Panisch warfen sie sich hin und her, zuckten auf unglaubliche Weise, während ihr Inneres sich nach außen kehrte und danach wieder umstülpte. Und dennoch waren sie entsetzlicherweise noch am Leben und bewegten Arme und Beine mit unfassbarer Geschwindigkeit. Die Köpfe, die sich wie Kreisel drehten, blähten sich plötzlich auf, und die trüben Augen quollen so aus den Höhlen, als wollten sie explodieren.
    Tiadbas Schreie vermischten sich mit denen der Opfer.
    Plötzlich wusste Jebrassy, was gerade passierte. Er hatte so etwas schon einmal erlebt, allerdings in geringerem Ausmaß
und auf eine einzige Stelle konzentriert. Es war ein Überfall, der dem glich, der seine Mer und seinen Per verschlungen hatte – und die Bewohner dieser Ebene waren das Hauptangriffsziel.
    Ruckartig zog der Wächter sich ans andere Ende des Ganges zurück, wobei er mehrmals gegen die Wände stieß. In ihrem Rücken quetschte die schwarze Masse den Gang jetzt so zusammen, dass er mit einer der Mauern verschmolz. Rings um das Treppenhaus hatten sich inzwischen goldfarbene Wächter gesammelt, um überall Netze auszuwerfen. Jebrassys und Tiadbas Beschützer drehte die beiden plötzlich herum und zog sie eng an sich, denn er hatte einen neuen Gang oder Raum betreten und wollte vermeiden, dass sie an die Wände schlugen. Hier waren die Wände fugenlos und schimmerten silbrig. Es war ein Jebrassy unbekannter Schacht, vielleicht auch eine Röhre – ein Aufzugschacht, genau wie der in den Diurnen, schoss es ihm durch den Kopf. Er versuchte, nach Tiadba zu greifen, doch seine Finger reichten nicht ganz bis zu ihr hinüber. Er konnte sehen, dass sie noch lebte, denn sie drückte den Büchersack eng an die Brust. Doch sie hielt die Augen geschlossen und den Kopf so gebeugt, als wollte sie sich in ihr Schicksal ergeben.
    Blitzschnell sausten sie durch die glänzende Röhre. Obwohl der massive Körper des Wächters sie schützte, riss der rasende Luftstrom Jebrassy fast den Schurz vom Leib. Er spürte, wie die exponierte Haut sich erhitzte. Am Ende der Röhre gelangten sie durch eine Öffnung ins Freie, wo der Wächter die Schwingen ausbreitete. In sanfter Kurve stiegen sie über der dritten Insel empor. Jebrassy konnte die Augen lange genug öffnen, um

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