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Die Stadt am Ende der Zeit

Die Stadt am Ende der Zeit

Titel: Die Stadt am Ende der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Bear
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abzeichnete. Die kräftige Pfeilspitze sondierte das Terrain, senkte sich, schoss weiter, leuchtete auf: Sie hatte das gefunden, was sie suchte.
    Sie folgte einem alten weißen Van.

45
Wallingford
    Oh – oh!
    Etwas Böses kommt daher.
    Binnen einer knappen Minute kam Daniel zu dem Schluss, dass der Gewittersturm vermutlich irgendetwas jagte, doch diesmal nicht ihn , denn er tobte südlich von Daniels Aufenthaltsort, südlich der Innenstadt.
    Als es zu regnen und danach zu blitzen begann, wandte er den frühmorgendlichen Autofahrern und ihren Wagen, die sich auf der Fünfundvierzig zur Schnellstraße im Westen vorarbeiteten, den Rücken zu. Er war fertig mit den Straßenecken und der Bettelei. An diesem Morgen zählte er nicht mehr zu den tausend grauen Gestalten, die an den mit Abfall übersäten Randsteinen Tausender Auffahrten standen. Dieses Leben war vorbei, es hatte ein neues begonnen.
    Am wichtigsten war: Er hatte überlebt.
    Er blickte nach Süden, um den Weg des Sturms zu verfolgen. Nicht einmal die grellen Blitze und die sich windenden Wolkenungetüme konnten das neue Hochgefühl, das Gefühl körperlichen Wohlbefindens beeinträchtigen. Seit zwei Stunden war er von der Schlange in seinen Eingeweiden befreit und genoss es. Was von Fred noch übrig war, schaffte es nicht mehr, ihm viel Widerstand entgegenzusetzen. Dieser Körper war jung und relativ gesund, wenn auch nicht in Bestform.
    Hinten im Haus schlief Mary immer noch. Und Charles Granger lag tot auf der Couch; eine Decke verhüllte seinen armseligen verbrauchten Körper. Wenigstens das ist nicht meine
Schuld, dachte Daniel. Das von innen her verweste Fleisch hatte einfach aufgegeben.
    Der neue, gesunde Daniel war auf irrationale Weise sehr stolz auf seine Stärke und Fähigkeiten. Außerdem wusste er jetzt mit Sicherheit, dass noch andere wie er in der Stadt waren – und man sie bald zusammenbringen würde. Fröhlich sang er Dies irae vor sich hin. Wenn der Sturm das fand, wonach er suchte, wollte er sich möglichst nicht im Freien aufhalten. Selbst ein paar Kilometer weiter würde dieser Fund unangenehme Begleiterscheinungen haben. Außerdem musste er die Kästchen holen, die in dem verlassenen Haus hinter dem Kamin versteckt waren.

46
West Seattle
    Als der Van von der West Seattle Bridge abbog, geriet er ins Schleudern, denn plötzlich musste Glaucous einem Wagen auf der linken Fahrspur ausweichen, den irgendjemand abgewürgt hatte. In den Fahrersitz gekauert und blass vor Anspannung, hielt er den Van in Zaum, als er kurzzeitig nur noch auf zwei kreischenden Rädern lief, lenkte ihn ruckartig zurück auf die Spur und nahm sich danach die Zeit, mit den vernarbten Fingerknöcheln den Schweiß aus den Augen zu wischen.
    Jack Rohmer, der hinten im Van immer noch in dem Leinensack steckte, hatte es inzwischen geschafft, einen Arm durch die Verschnürung zu stecken, und schwenkte die Faust, während er über den kalten Metallboden vor und zurück rollte.
    Mittlerweile hatte Glaucous mit der Imitation von Vogelstimmen aufgehört und war dazu übergegangen, seine persönlichen Erfahrungen als fliegender Händler aus dem Gedächtnis zu kramen. »Frische Äpfel, Birnen, Stachelbeeren, Johannisbeeren! «, brüllte er und ließ die alten Zeiten fröhlich hochleben.
    Penelope stöhnte laut auf: Ein Blitz war in einen Strommast an der Straßenseite gefahren. Ein Funken sprühender Trafo stürzte erst auf die Windschutzscheibe und schlug dann hinter ihnen auf die Straße. Die ganze Zeit über murmelte Glaucous irgendwelche unsinnigen Dinge vor sich hin, die mit ihrer Fahrt und der gefährlichen Situation nichts zu tun hatten: »Schuhbänder und Jute! Fasern und Werg! Lumpen und Papier! Alteisen jeder Art! Schalotten und Zwiebeln! Lauch, Knochen und FETT! « (Letzteres schrie er laut, als erneut irgendwo ein Blitz einschlug.) »Pflaster und Salben! Pflaster und Wickel für jedes Kind – alle Schmerzen legen sich geschwind!«
    Ein widerlicher, erdrückender Gestank stach Jack in die Nase. Das lag nicht nur daran, dass er in dem engen Sack so schwitzte. Diesen Gestank hatte er von seinem letzten Ausflug mitgebracht. Er war zu weit gesprungen, war zu einem Knoten von maroden Weltlinien vorgestoßen, die in Auflösung begriffen waren, Schleifen bildeten und nach etwas Entsetzlichem rochen.
    Er wusste, dass der Van verfolgt wurde, dass irgendjemand diesem Gestank auf der Spur war …
    Glaucous schien derselben Meinung zu sein. Zwischen seinen schwachsinnigen

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