Die Stadt am Ende der Zeit

hatte Fred auf den Plan gerufen – einen bedenklich starken Fred, der keineswegs
mitgehen wollte. Doch Daniel konnte keinen weiteren Sprung tun, selbst wenn er die Kraft und Konzentration besessen hätte. Gewiss hatte sich die Zersetzung bereits überall verbreitet, und es gab nichts anderes mehr als widerliche, schleifenartige graue Weltlinien, die – ineinander verstrickt – zwischen diesem in Auflösung begriffenen Teil der Geschichte und deren unbekanntem Ende lagen: gewalkte, zerfaserte Schicksalsfäden, durchdrungen von säuerlichem, rußigem Verwesungsgestank.
    Eine andere Stimme meldete sich, die weder seine eigene noch die von Fred war. Fred war bereits auf dem Rückzug, wie eine Schnecke, die unter einem Stein Schutz sucht.
    Wozu all die Mühe, Mr. Iremonk?
    Ein knisternder, blendender Blitz raste die Straße entlang und schlug in einen Hydranten ein. Die Explosion warf Daniel fast um und zertrümmerte alle Glasscheiben des Lampengeschäfts. Er jaulte auf wie ein getretener Hund und stolperte weiter.
    Du hast eine Verabredung, hast den Termin lange genug hinausgeschoben.
    Die Menschen auf den Gehwegen rannten schreiend davon.
    Daniel wirbelte herum. Eine alte Frau in eng anliegender Fahrradkleidung, die einen umgeschlagenen schwarzen Schirm umklammerte, zerrte einen Terrier hinter sich her, der auf der Seite lag und mit den Beinen um sich trat. Jedes Mal, wenn er sich wieder aufgerappelt hatte, ruckte sie so heftig an der Leine, dass er wieder umfiel.
    Riesige Hagelkörner, so groß wie Fußbälle, stürzten aus dem aufgewühlten Himmel. Jetzt trennten Daniel nur noch wenige Kilometer vom Auge des Sturms.
    Bisher ist nur ihr Rocksaum an dir vorbeigestrichen. Das ist noch gar nichts im Vergleich zu dem Riss in der Zeit. Erinnerst du dich noch, Daniel? Ihr alle seid armselige Mistkerle. Doch du ganz besonders.
    Als Daniel einen halben Straßenblock hinter sich einen kleinen Mann mit öligem, aalglattem Haar entdeckte, bog er links ab. Doch auf der gegenüberliegenden Straßenseite wartete ein weiterer. Er war schlank und trug altmodische schwarze Kleidung, die vor Wasser und Alter glänzte. An einem Straßenblock weiter östlich stand ein Dritter, der mit der auffällig bleichen Hand einen tropfnassen ramponierten Filzhut umklammerte. Alle drei lächelten und schienen den Sturm zu genießen, achteten gar nicht auf Regen und Eis.
    Wo ist der vierte Pfosten des Netzes, Daniel?
    Als er rückwärts zu laufen versuchte, wäre er fast gestürzt. Mit wirbelnden Armen schwenkte er herum und legte sich ins Zeug, gab alles, was er hatte, ohne zurückzublicken.
    Er musste es bis zum Haus schaffen.
    Unbedingt.

48
West Seattle
    Der Sturm hatte eine hohle, emotionslose Stimme. Niemals hatte er Hunger, Mitgefühl, Leidenschaft oder quälende Hormonschübe erlebt; niemals hatte seine Stimme körperlichen oder seelischen Bedürfnissen Ausdruck verliehen. Seine Substanz bestand aus tausend Wirbeln und Strömen von Wind
und Wasser, die von ruhelosen elektrischen Ladungen und Entladungen gespeist wurden. Der Sturm wusste lediglich – und mehr konnte er unmöglich wissen –, dass er wider alle Wahrscheinlichkeit freigesetzt worden war und jetzt solche Macht besaß wie kein Sturm je zuvor. Er konnte seine Kräfte konzentrieren, und er konnte töten – heimtückisch töten.
    Ein schwarzer Wasserwirbel hatte den weißen Van fast eingeholt.
    »Hier geht’s um unsere Beute, unsere Fracht, meine Liebe!«, rief Glaucous über das Tosen hinweg und deutete mit dem Daumen nach hinten. »Er hinterlässt eine Spur …«
    »Die Spule eines Lebensfaden ?«, quäkte Penelope.
    »Nicht Spule, sondern Spur ! Er dünstet etwas aus, er stinkt nach schlimmen Orten, wenn’s auch nicht die Hölle ist. Allerdings ist er ihr sicher sehr nahe gekommen, hat vielleicht sogar einen Zeh hineingesteckt … Violett! Indigoblau! Rot! Rote und orangefarbene Blitze! Und all das nur, um Madame zu entzücken! «
    Jack brauchte alle Kraft, um die Füße gegen die Hecktüren zu stemmen, während er stöhnend den Sack umklammerte und sich darin herumwälzte …
    Als sich etwas Dunkles über die Windschutzscheibe legte, kreischten Glaucous und Penelope wie verschreckte Papageien auf.
    Jack spähte durch das Loch, das er durch die Lockerung der Verschnürung geschaffen hatte. Zwar konnte er die Silhouetten der riesigen, jetzt zusammengesunkenen Frau und des Fahrers ausmachen, starrte aber zwischen beiden hindurch auf die Windschutzscheibe. Für das, was er