Die Stadt am Ende der Zeit
er ihn lesen – ein Trick, den er vor Jahren gelernt hatte.
Die Sprache ist so grundlegend wie Energie. Damit das Universum beobachtet werden kann, muss es reduziert, codiert werden. In einem nicht beobachteten Universum herrscht das Chaos. Die Sprache wird zur DNA des Kosmos.
Er blickte auf. Auch Ginny hatte den Text gelesen. »Angesichts der Macht, die ihr Kinder besitzt, komme ich mir ganz klein vor«, sagte Bidewell ehrfürchtig. »Ich habe Jahrhunderte darauf gewartet, diese Wirkung mit eigenen Augen zu sehen. Sie bestätigt vieles von dem, was bis jetzt eine bloße philosophische Spekulation war.«
»Was sind diese Steine?«, fragte Ginny. Die Hand, in der sie den Stein hielt, zitterte. »Ich habe meinen schon so lange ich denken kann. Und vor mir hatten ihn meine Eltern. Ich war nie sehr lange von ihm getrennt. Trotzdem habe ich keine Ahnung, was er ist.«
»Jack?«, sagte Bidewell und beobachtete ihn genau, wirkte dabei aber zuversichtlich.
»Meine Mutter hat ihn einen Gelegenheitsstein genannt, weil er gelegentlich greifbar ist, manchmal aber auch verschwindet. Einmal hat sie ihn auch als Bibliotheksstein bezeichnet.«
»Seltsam. Bibliotheksstein. Als hätte sie darüber Bescheid gewusst. «
»Worüber?«
»Im Augenblick sind diese Steine, diese Kapseln, die etwas umschließen, noch Teilelemente. Ihre Reise ist beendet, sie sind stark und voll ausgebildet, aber noch nicht reif für das Weitere. Dennoch haben sie bemerkenswerte Kräfte, wie ihr sehen könnt.« Bidewell ergriff die ausgestreckten Hände von Ginny und Jack und zog sie langsam auseinander. Trotzdem
blieb der Text des Buches lesbar; es kamen sogar ständig weitere lesbare Passagen hinzu. »Über die Zeitalter hinweg hat es viele solcher Steine gegeben. Manche waren Irrläufer und haben sich als nutzlos entpuppt. Andere wurden zusammen mit ihren Hütern eingefangen und vermutlich beschlagnahmt oder vernichtet. Die Namen, die man den Steinen verliehen hat, liefern uns wahrscheinlich Hinweise auf ihre wahre Natur und Funktion. Für den Augenblick könnt ihr sie weglegen. «
»Falls etwas die ganze Ordnung zerhackt hat, wie kommt es dann, dass wir noch denken oder sehen können?«, fragte Miriam. »Warum sind dann nicht auch unsere Körper verstümmelt? « Sie erhob die Stimme. »Eigentlich müsste dann doch alles auseinanderfallen!«
Auf ihre beunruhigende Bemerkung folgte betretenes Schweigen.
Bidewell schlug die wiederhergestellten Seiten auf, eine nach der anderen. Der Alte hatte tatsächlich Tränen in den Augen – Tränen der Erleichterung und der Ehrfurcht. »Wir begreifen erst ansatzweise, welche Dimensionen dieses Geheimnis hat. Wohl oder übel gibt es jetzt überall nur noch die subjektive Zeit. Alle Schicksale sind an den jeweiligen Ort gebunden.« Er hob den Blick zu einer großen elektrischen Wanduhr über der stählernen Schiebetür. Der eine Zeiger war geknickt und steckte fest, als hätten ihn unsichtbare Finger ergriffen und in der Mitte herumgedreht, der andere lag am Boden des Uhrenglases. »Kein Zeitmesser wird die uns noch verbleibenden letzten Sekunden anzeigen. Falls wir flach gedrückt und erstarrt am Terminus landen, sind wir verloren. Dann werden uns selbst diese Steine nichts mehr nützen. Dennoch dürfen wir bei dem,
was wir noch tun können, nichts überstürzen. Zuerst müssen wir uns kennenlernen.«
Bidewell zog einen Klappstuhl heran, legte eine Hand auf den Sitz und lächelte Jack zu, der mit aufmerksamem Blick darauf Platz nahm. »Eigens für diesen Anlass habe ich ein kleines Festmahl vorbereitet. Ginny weiß, wo die Dosensuppen und die Zutaten für Sandwiches aufbewahrt werden. Ellen, möchtest du anfangen?«
Alle setzten sich an den Tisch und genossen das Festmahl aus Pastrami auf Roggenbrot und Tomatensuppe, die sie auf dem Holzofen gewärmt hatten. Farrah zauberte eine Flasche Rotwein und einen Korkenzieher aus ihrer geräumigen Handtasche. »Ich frage mich, was der Terminus mit Wein anstellt«, sagte sie und goss ein wenig von der rubinroten Flüssigkeit in ein Trinkglas. Nachdem sie daran genippt hatte, zog sie anerkennend eine Augenbraue hoch und schenkte allen ein. »Ist schon schwierig, einen billigen Merlot zu verderben.«
Ellen hob ihr Glas und schwenkte den Inhalt herum. »Wir vier haben tatsächlich als Literaturzirkel angefangen. Nach wie vor treffen wir uns zweimal im Monat, um etwas zu essen und zu trinken und über Literatur zu diskutieren.«
»Wir alle sind so gut gestellt«,
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