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Die Stadt am Ende der Zeit

Die Stadt am Ende der Zeit

Titel: Die Stadt am Ende der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Bear
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sogar lesen konnte. Offenbar verstand er jetzt viel mehr Sprachen und Zeichen als früher.
    In Erwartung wunderbarer Dinge trat er durch einen Durchlass in der Tür, der seiner Größe entsprach. Er wurde nicht enttäuscht: Sein Blick fiel auf endlos hohe Wände mit Bücherregalen. Als er sich über die Brüstung beugte, merkte er, dass die Bücherwände sich auch nach unten hin fortsetzten, ohne dass ein Ende abzusehen war. Alle Regale umfassten dichte Bücherreihen, unzählige Bücher mit unterschiedlichen Einbänden – ein wahres Crescendo von Farben, das zur näheren Untersuchung geradezu herausforderte. Bücher in neutralen dunklen Einbänden, die anzeigten, dass sie unberührt und ungelesen waren; Bücher mit blassen Einbänden, die jemand vielleicht ein- oder zweimal in die Hand genommen hatte; Bücher in farbigen, vor allem roten und blauen Einbänden, die verrieten, dass sie größere Beachtung gefunden hatten.
    Diese Farben zogen das Interesse vieler kleiner, schlanker Gestalten auf sich. Es waren jedoch keine Nachgezüchteten der alten Art. Vielmehr ähnelten sie den Angelins, die er bereits kannte. Allerdings wirkten sie stofflicher und mit größerer Begeisterung
bei der Sache. Munter strömten sie auf allen Ebenen die Wendeltreppen hinauf und hinunter, um die Bücherregale zu inspizieren.
    »Das muss ein Babel sein«, murmelte Jebrassy vor sich hin. »Alles ist hier zu einem Minikosmos in Kristallgröße verdichtet – eine Erfindung der Shen. Und diese Leutchen erforschen ihn.«
    Aus der Nähe betrachtet – die Wesen gingen neben ihm an der Brüstung vorbei, ohne ihn sonderlich zu beachten – war ihre Haut glatt und alterslos, und die Gesichter wirkten heiter oder belustigt. Manche sahen den Eindringling freundlich an, sagten jedoch nichts. Alle hier benutzten eine Zeichensprache, vermittelten das, was sie einander mitteilen mussten, durch ein Zucken von Fingern und Armen oder durch die Mimik.
    Innerhalb dieses Babels herrschte Stille, zumindest so lange, bis jemand auf einen nützlichen Text gestoßen war. Dann drang großer Jubel durch die riesigen Räume, die Laufgänge und die strahlenförmig angeordneten Bücherwände, die sich ins Endlose erstreckten, und alle strömten zusammen, um das Ereignis zu feiern. Plötzlich weiteten sich die Gänge zu Arenen, und dort stellten sich die erfolgreichen Forscher – das Gespann, das die Entdeckung gemacht hatte – im Kreise ihrer Bewunderer auf. Es wurde verkündet, welcher lesbare Text aufgetaucht war, und dessen dunkler Einband durch einen farbigen ersetzt. Später wurde das Buch katalogisiert und mit einer Registriernummer versehen. Deren Zahlenfolge entrollte sich jedes Mal wie ein schillerndes silbernes Band in der Arena, um sich gleich darauf auf magische Weise zu einem gefalteten Achteck zusammenzuziehen. Anschließend wurde das Achteck
ohne große Förmlichkeit einer schwarz verhüllten Gestalt übergeben, die hin und wieder inmitten der fröhlichen Sucher sichtbar wurde.
    Danach verstummten die Jubelrufe, leerten sich die Arenen und schrumpften zusammen, während sich Gänge und Wendeltreppen erneut ausdehnten und miteinander verbanden.
    Und alles war wieder wie zuvor.
     
    So viel war Jebrassy inzwischen klar: In einem Babel zu leben bedeutete, sich für alle Zeiten auf das faszinierende, fortwährende Drama der endlosen Suche einzulassen. Dennoch juckte es ihn in den Fingern, sich diesen fröhlichen Gestalten in ihren knielangen Gewändern anzuschließen, sich in der segensreichen Anonymität dieser wichtigsten Suche überhaupt zu verlieren, in die größte aller Bibliotheken einzutauchen …
    In die Bibliothek, die alle nur möglichen Erzählungen umfasste. Die ganze Geschichte, alle Geschichten. Und jede Menge Unsinn. Ein Babel, der Name so alt wie das Leben selbst. Geboren in der Zeit der Leuchtenden Pracht. Ein Zentrum, das alle möglichen Sprachen in sich versammelte. Ein Ort der Verwirrung, der Suche und – äußerst selten – der Erleuchtung.
    Er versuchte, einen der Forscher anzuhalten, und formulierte in Zeichensprache recht unbeholfen die Frage: Wie lange schon? Doch der Forscher schüttelte ihn ab und machte sich wieder auf die Suche. Also stieg Jebrassy eine Wendeltreppe hoch und wanderte ewig lange – es mochten Tage oder Jahre sein – an einer Brüstung entlang.
    Hin und wieder blieb er stehen, zog einen Band heraus, durchblätterte die tausend oder mehr Seiten und versuchte, daraus schlau zu werden – nur um

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