Die Stadt am Ende der Zeit
Atome, Moleküle. Ich gebe zu, dass man sich die spontane Entstehung ganzer Galaxien nur schwer vorstellen kann. Deswegen sind sie allerdings nicht weniger real. Sobald ein Teilchen oder ein Objekt erst einmal erzeugt ist, ist es schon immer hier gewesen . Es stellt Verbindungen zu all den Teilchen her, mit denen es in Wechselwirkung getreten ist, und diese Verbindungen, diese Verbundenheit muss, so könnte man sagen, im Nachhinein hergestellt werden. Im wörtlichen Sinne«, Bidewell lächelte, »muss die Buchhaltung ausgeglichen sein.«
»Und was ist mit uns?«, fragte Ginny mit unerwarteter Scharfsicht. »Mit Menschen, Hunden, Katzen? Ich meine, wer führt Buch über all die Menschen auf den Straßen?« Sie blickte scharf zu Daniel und danach zu Glaucous hinüber, die im Schatten saßen.
Bidewell zog eine Schulter hoch.
»Wie könnte irgendjemand wissen, ob ich nicht gerade erst aus dem Nirgendwo aufgetaucht bin?«, fragte Jack.
»In der Regel können wir das nicht«, erwiderte Bidewell. »Mnemosyne ist die Kraft, die alles vor Bruchlandungen bewahrt. Und davor, in unvereinbare Widersprüche miteinander zu geraten. Sie erledigt ihre Arbeit, und sie erledigt sie gut.«
Jack pfiff durch die Zähne. »Eindrucksvolle Dame.«
Doch selbst diese Frivolität konnte den alten Mann nicht aus der Ruhe bringen. »Ihr werdet sie mögen«, bemerkte Bidewell. »Aber eine Dame ist sie nicht.«
»Klingt nach einer ziemlich umständlichen Methode, gewisse Dinge zu erledigen«, sagte Ginny.
»Mag sein, aber das Ergebnis ist ein Kosmos unendlicher Vielfalt und Komplexität. Denn genau deswegen hat das Universum, logisch ausgedrückt, in Wirklichkeit gar keinen zeitlichen Anfang, aus dem sich alle Dinge entwickelt haben. Bis zum Ende der Schöpfung stellt jeder Augenblick irgendwo eine Art Anfang dar.«
»Und was hat’s dann mit dem sogenannten Urknall auf sich?«, fragte Jack.
»Ich verlange ja gar nicht, dass ihr mir glaubt. Ihr werdet die Wahrheit schon früh genug erkennen; ich will euch lediglich darauf vorbereiten. Miteinander bereits verschränkte Lichtstrahlen müssen in Bewegung versetzt werden, damit sie das Bild vervollständigen, das jeder Beobachter sieht oder von diesem Zeitpunkt an sehen wird – oder auch in der Vergangenheit erkennt. Die Welle der Zusammenführung läuft rückwärts in der Zeit und danach wieder vorwärts – ein Impuls nach dem anderen, bis diese Feinarbeit vollendet ist.«
»Klingt kompliziert«, bemerkte Jack.
Ginny blickte auf die hohen Bücherregale und die offenen Kisten und Kartons, deren Inhalt auf dem großen Mitteltisch der Bibliothek verteilt war. »Sie haben gesagt, manche der Bücher, nach denen Sie gesucht haben, seien seltsam oder unglaublich, da sie keine Geschichte hätten. Das muss doch heißen, dass sie nie auf ihre Ursprünge zurückgeführt wurden, selbst vor dem nicht … was jetzt da draußen passiert.«
»Gut gefolgert«, sagte Bidewell.
»Und das bedeutet, dass Mnemosyne … na ja, nicht ganz bei der Sache war oder irgendetwas ihr derzeit zusätzliche Arbeit macht, so dass sie überlastet ist. Oder aber … sie ist krank. Vielleicht liegt sie im Sterben.«
»Noch besser gefolgert.«
»Seltsame Bücher, aus dem Nichts auftauchende Galaxien … Welche Anzeichen gibt es sonst noch dafür?«, fragte Ginny.
Plötzlich fiel Jack der riesige Ohrenkneifer ein, den er zwischen den Lagerhäusern hatte krabbeln sehen, falls es keine Sinnestäuschung gewesen war. »Merkwürdige Tiere?«
»Wie kommst du darauf?«, fragte Daniel, dessen schläfrige Miene plötzlich durchtrieben wirkte.
»Ich hab welche gesehen, eines zumindest.«
»Meine Güte.« Bidewell faltete die Hände. »Ja, das sind Anzeichen. «
»Träume kommen manchmal aus dem Nirgendwo«, sagte Ginny. »Sind das auch Anzeichen?«
»Mnemosyne kann alles an allen Orten miteinander verbinden, ausgenommen sind Herz und Verstand eines Beobachters. Das ist für sie verbotenes Gebiet. Aber Beobachter sterben, und mit ihnen ihre Erinnerungen, bis auf die Legenden, die urzeitlichen
Mythen, die davon handeln, wie alles war, ehe die Schöpfung so vielfältig und kompliziert wurde. Diese Mythen werden mündlich und durch Träume überliefert und verharren sozusagen in einem Schwebezustand, trotz Mnemosynes größter Bemühungen. Aus diesem Grund befasst sich Mnemosyne nur selten mit Träumen.«
»Und wann tut sie es?«, fragte Daniel.
»Wenn sie wahr werden«, erwiderte Bidewell.
70
Das Chaos
»Was ist das?«
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