Die Stadt am Ende der Zeit
herauskommen als das, was in den Büchern bereits abgedruckt ist. Und das ist sowohl das Wunderbare als auch das Traurige an diesem Babel: Es ist unvollendet. Die Geschichten, die es enthält, sind nicht lebendig; sie können die Unberechenbarkeit, die Unermesslichkeit, die Wiederholungen des wirklichen Lebens nicht wiedergeben. Trotz seines ungeheuren Ausmaßes ist ein Babel nur ein Kern. Eine Karte. Aber die Landkarte ist nicht das Gelände, wie es einmal ein meisterlicher Denker ausgedrückt hat, der in den Nebeln der Leuchtenden Pracht verschollen ist.«
Als Jebrassy darüber nachdachte, hellte sein Gesicht sich nach und nach auf.
Dem Epitom gefiel diese Reaktion. Er zog ein Buch aus dem Regal und streckte es hoch. »In Wirklichkeit erhalten wir solche dicken Bände nicht auf einen Schlag, denn das wäre Verschwendung. Nein, wir erzeugen viel kürzere Symbolreihen und jagen sie danach durch Analyseprogramme, die aufgrund einfacher Regeln nach grammatischen Verbindungen suchen. Das hilft uns dabei, längere Texte in allen möglichen Varianten zusammenzufügen und auszuspinnen. Mehrdeutige Texte – Texte mit erweiterter Bedeutung – lassen sich komprimieren, musst du wissen. Man kann sie verschlüsseln und reduzieren, ohne dass dabei etwas verloren geht. Eher zufällig zusammengewürfelte oder bedeutungslose Texte kann man nicht auf diese Weise reduzieren. Folglich weist dieses Babel innerhalb des Kristalls, wenn ich es von außen betrachte, Regionen der Verdichtung auf. Und nach diesen Regionen halten wir Ausschau, auch wenn der Fund erst den Anfang bedeutet. Zum Beispiel ist Pi völlig zufallsbedingt – das habe ich selbst vor langer Zeit bewiesen – und kann deshalb nicht komprimiert, sondern nur zu einer Gleichung heruntergebrochen werden, und eine Gleichung ist wie eine Fertigungsanlage. Interessanterweise ist Pi als Kreiszahl dieses Minikosmos eine sehr einfache Zahl: schlicht zwei. Kannst du mir verraten, warum?«
Jebrassy kniff die Augen zusammen. Mit diesen Dingen hatte er sich noch nicht befasst. »Und selbstverständlich«, fuhr das Epitom ohne innezuhalten fort, »herrscht hier Symmetrie, vielfältige Symmetrie. Beispielsweise spiegelt die eine Hälfte der Bibliothek die andere Hälfte wider: Es sind dieselben Texte, nur von hinten nach vorn gedruckt. Diese können wir außer Acht lassen. Darüber hinaus wenden wir hier noch sehr viele andere Techniken an. Manche sind recht einfach, andere äußerst
kompliziert. Sie wurden über eine halbe Ewigkeit hinweg entwickelt, einige von mir selbst, doch die meisten von anderen, deren Namen längst vergessen sind.«
»So vieles ist in Vergessenheit geraten«, warf Jebrassy ein. »Warum? Wenn man Babels schaffen kann, warum kann man dann nicht auch die reale Geschichte so bewahren und erhalten, dass sie allen zugänglich ist?«
Das Epitom freute sich über diese Frage. »Vielleicht wäre es tatsächlich möglich. Allerdings sollten wir diese Aufgabe nicht unterschätzen. Alles in Erfahrung zu bringen, was an jedem beliebigen Ort geschieht, ist ein ungeheuer schwieriges Unterfangen. Die Shen haben ihre diesbezüglichen Methoden erst lange nach der Zeit enthüllt, als die Städte der Erde ihre eigenen Aufzeichnungstechniken nur noch als belastend empfanden. Die rudimentären Archive der Erdgeschichte unterhalb der Kalpa haben die Grundlagen für die uns verbliebenen Bione geliefert: Erinnerungen und Aufzeichnungen, die zerfallen und begraben sind, nicht besser als uraltes Grundgestein. Die einzige Möglichkeit, sich Zugang zu Teilen dieser Vergangenheit zu verschaffen, besteht tragischerweise darin zuzusehen, wie der Typhon sich die in Stücke zerfetzte Vergangenheit einverleibt. Und die Verschränkungen und Verbindungen zwischen euch Nachgezüchteten und euren Besuchern sorgen dafür, dass wir uns zu den letzten Momenten unserer Geschichte zurücktragen lassen können. Geführt von euch, unseren Träumern.«
»Wie traurig«, sagte Jebrassy. »Aber das bedeutet doch, dass der Typhon eine bestimmte Funktion erfüllt.«
»Du würdest einen ausgezeichneten Forscher abgeben, wie ich sehe. Doch du wärest dabei nicht glücklich. Selbst ich bin hier nicht mehr glücklich, denn es fehlt etwas.«
»Das Leben?«
»Das Überraschungsmoment. Das Unvorhersehbare. Das Gelände , auf dem die Kartografie basiert. Alles liegt in diesen Bücherregalen aus und wartet nur darauf, entdeckt zu werden – aber es ist fest vorgegeben. Wenn der Kern eingepflanzt ist und diese
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