Die Stadt am Ende der Zeit
festzustellen, dass die anscheinend
willkürlich zusammengeworfenen Buchstaben nichts preisgaben. Doch das frustrierte ihn keineswegs, denn es gab ja stets ein weiteres Buch und einen neuen Versuch. Also stellte er den Band zurück und zog weiter. Es war eine wunderbar friedliche und erfüllende Arbeit.
Aber dieses Leben war für ihn nicht vorgesehen.
Seltsamerweise war er nicht einmal beunruhigt, als ihm klar wurde, dass er zu der großen Tür niemals zurückfinden würde. Vielleicht hatte sie sich sowieso hinter ihm verriegelt.
Er zog eine zum Achteck gefaltete Nummer aus seinem Gewand, streckte das Papier über die Brüstung, öffnete es mit einem Trick, so dass es sich entrollte, und ließ es lachend in den Abgrund zwischen den Regalwänden fallen. Bald darauf näherte sich ein Sucher und fragte ihn in Zeichensprache, wer ihn beauftragt habe, nach diesem Band Ausschau zu halten. Als Jebrassy sich verwirrt zeigte, sah sich der Sucher zusammen mit ihm die ersten Ziffern auf dem langen Streifen an und führte ihn zu dem Band, der schon recht früh entdeckt und katalogisiert worden war.
Jebrassy zog das Buch heraus, schlug den robusten blauen Einband auf und vertiefte sich in den Text. In diesem Augenblick trat die dunkle Gestalt zu ihm, schlug die Kapuze zurück, und Jebrassy merkte, dass er den Bibliothekar vor sich hatte – zumindest das Epitom, das er am besten kannte.
»Das alles ist nur eine Sinnestäuschung, nicht wahr?«, fragte Jebrassy.
»Ich dachte, dieses Abenteuer könnte dir gefallen.«
Jebrassy schloss daraus, dass dieses wunderbare Abenteuer bald sein Ende finden würde, und seine Miene verfinsterte sich. »Warum sollte ich gerade dieses Buch finden?«
Das Epitom nahm ihm das Buch ab und wog es in der Hand. »Es ist eine Biografie. Der Text ist nur teilweise lesbar, manches ist verstümmelt. Mag sein, dass es irgendwo einen anderen Band gibt, der diesen Text vervollständigt.« Er deutete auf die endlosen Regalreihen. »Aber das spielt im Moment keine Rolle. Dieses Buch ist für dich bestimmt, bist DU – zumindest vorläufig, bis wir die anderen Bände finden –, und das ist von großer Bedeutung.«
»Enthält es meine Geschichte?«
»Nicht genau die deinige. Und auch nicht die vollständige.«
Jetzt begriff Jebrassy. »Also ist es auch seine Geschichte. Die Geschichte desjenigen, mit dem mein Leben verstrickt ist.«
»Ich habe mich gefragt, wie schwer es dir wohl fallen würde, das Buch zu finden.« Das Epitom wies auf die riesigen Räume. »Du hast wirklich ausgezeichnete Instinkte.«
»Wie findet hier überhaupt jemand irgendetwas? Ich meine, ist hier wirklich alles zu einem winzigen Kristall verdichtet? Dass ein kleiner Ort so vieles umfassen kann!«
»Wie wahr. All diese Sucher! Ihre größte Freude besteht darin, ihre Aufgabe wieder und wieder zu erfüllen, über so große Spannen ihres eigenen, besonderen Zeitablaufs hinweg, dass selbst mein vollständiges Ich es kaum ermessen kann. Doch all das, was hier versammelt ist – innerhalb des Kristalls, wie du sagst –, ist dennoch nicht unendlich. Es ist begrenzt. Wie das Babel selbst.«
»Es gibt eine Zahl namens Pi«, sagte Jebrassy voller Stolz auf sein Wissen. »Sie beginnt mit 3,1415 … und setzt sich ins Unendliche fort. Sie ist hier nicht vertreten, oder?«
»Hier drinnen kann man nichts Unendliches vollständig repräsentieren. Natürlich gibt es Bruchteile von Pi, die in ziemlich
vielen dieser Bücher vorkommen. Ich nehme sogar an, dass man alle Zahlen von Pi hier finden könnte. Vom Anfang bis zum Ende. Man müsste die Bücher, in denen sie enthalten sind, nur in eine Zahlenfolge bringen und danach immer weitere Bände einfügen, wieder und wieder, doch dazu würde man ewig brauchen, sogar länger, als die Zeit innerhalb dieses Kristalls währt. Nein, Pi kommt hier nicht vor und auch keine andere unendliche Zahl oder Konstante. Nicht einmal unendlich lange Geschichten kann man hier finden, obgleich man annimmt, dass sie irgendwo existieren könnten.« Das Epitom drückte seine Belustigung darüber aus, indem es nach Art der Nachgezüchteten den Finger an die Nase legte. »Es wäre eine Geschichte, die auch einen ewig existierenden Herausgeber brauchte, stimmt’s? Doch alle Gleichungen, die Pi erzeugen können, sind hier vorhanden. Wenn du wolltest, könntest du dir eine solche Gleichung – oder alle – vornehmen und die Zahl bis zu einer bestimmten Länge berechnen. Allerdings würde dabei auch nicht mehr
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