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Die Stadt am Ende der Zeit

Die Stadt am Ende der Zeit

Titel: Die Stadt am Ende der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Bear
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lang gestreckten Raum in Winkeln miteinander verbanden. Normalerweise konnte er mit der ausgestreckten Hand ebenso einfach nach Weltlinien greifen wie Tarzan nach Lianen. Doch jetzt waren ihm alle möglichen Pfade abgeschnitten oder liefen zu einem Winkel zusammen, so dass sich nur mehr zwei Alternativen anboten, nur mehr eine einzige Frage stellte: Trete ich ein, oder bleibe ich draußen?
    Er hatte seinen Nullpunkt erreicht. Den Nullmoment.
    Unsicher lachend trat er einen Schritt aus der geschützten Ecke heraus, doch das Lachen erstarb sogleich wieder. Fast stockte ihm der Atem: Der Raum war zwar leer, aber er war nicht allein. Etwas wartete darauf, dass er eine Entscheidung traf. Wartete ab, während es mit unendlicher Geduld auf seine Herzschläge lauschte. Und dennoch …
    »Was willst du von mir?«, flüsterte Jack.
    Drei Türen, sechs Entscheidungsmöglichkeiten.
    Und dennoch gab es nur noch zwei Schicksalsfäden. Im Grunde hatte er keine Antwort auf seine Frage erhalten, diese Antwort ergab keinen Sinn. Was jeder Einzelne von ihnen dreien tat, erschien ihm ohne jeden Zusammenhang, fügte sich in seinem Kopf nicht zu einem Ganzen zusammen.
    Trotzdem tat er die beiden Schritte zu der ihm zugewiesenen Tür, deren Knauf mit Grünspan überzogen war, und steckte den Schlüssel ins Schloss. In dem uralten Messingknauf ließ er sich nur schwer drehen. Jack umklammerte den Schlüssel fest und half mit dem Druck der Schulter nach, bis sich nach mehreren Versuchen irgendetwas in dem alten Mechanismus löste und die Tür leise knarrend aufschwang.
    Bemerkenswert, dass sich hier drinnen über all die Jahre hinweg so wenig verändert hat.
    Er konnte die tote oder sterbende Stadt da draußen kaum noch hören, glaubte fast, er segele auf einem Schiff über einen weiten, stillen Ozean und lausche dabei dem Radio eines Reisegefährten in der Nachbarkabine, das auf einen obskuren Indie-Rock-Sender eingestellt war. Genau: auf KRAK, Ragnarock AM. Jetzt brachte er sogar ein Grinsen zustande. Plötzlich wurde er innerlich völlig ruhig; all seine Schuldgefühle, Sorgen und Ängste und die Unentschiedenheit fielen von ihm ab, so dass nur Jeremy Rohmer zurückblieb. Er musste nicht einmal mehr vorgeben, Jack zu sein. Hier war er Jeremy, wie seine Mutter ihn genannt hatte.
    Das Zimmer, das er jetzt betrat, war schmal, lang und hoch. Bidewell hatte diesen Teil des Lagerhauses in drei gleich große Rechtecke aufgeteilt. In die hintere Wand war ein einziges Fenster eingelassen, durch das seltsam gebündeltes Licht drang.
Eigentlich hätte es in Anbetracht der Lichtquelle in einem völlig anderen Winkel in den Raum fallen müssen.
    Jack ging auf den schlichten weißen Stuhl zu. Sitz und Rückenlehne waren mit einer uralten dicken Farbschicht überzogen, die mittlerweile abgeblättert war. Während er sich umdrehte und nach oben blickte, nahm er langsam Platz.
    Verschränkte die Arme.
    Musterte mit gehobenen Brauen die Winkel der hohen Zimmerdecke.
    Gähnte nach einer Weile.
    Wegen des Kieferdrucks summte es in seinen Ohren, so dass er die Stimme tief in seinem Kopf fast überhört hätte.
    … deine erste Erinnerung?
    Jeremy fuhr zusammen und fragte sich, ob er eingedöst war. Er war immer noch allein, und die Tür fest geschlossen.
    Als er Finger spürte, die über seine Arme strichen, fuhr er erneut zusammen, lehnte sich aber gleich darauf zurück. Er spürte, dass es jetzt begann: Sein Selbst brach wie eine Eiskruste auf, und die Erinnerungen begannen wie Wasser herauszusprudeln.
     
    Jeremys Vater saß am Steuer des Wagens, er auf dem Beifahrersitz. Sie verließen Milwaukee, um sich irgendwo anders niederzulassen. Sechs Monate waren seit dem Tod seiner Mutter vergangen, drei Monate seit dem kurzen und, wie sich herausstellten sollte, endgültig letzten Gastspiel seines Vaters in Chuck’s Comedy Margin und vier Wochen, seit er sich bei dem Versuch, auf einem Einrad sitzend zu jonglieren, das Bein gebrochen hatte. Er war fünfzehn Jahre alt.
    »Hast du je vom Düsteren Aufseher gehört?«, fragte sein Vater.
    »Was ist das? Eine Band?«
    »Nö.«
    Vor den Wagenfenstern strich die Landschaft vorbei: die flache Wüste und niedrige braune Wüstenstädtchen, in die gelbrötlichen Farben des Sonnenuntergangs getaucht. Am Spätnachmittagshimmel waren Gewitterwolken aufgezogen. Doch zwischen einzelnen Gewittern klarte der Himmel immer wieder auf. Die zarten weißen Wölkchen erinnerten an Schafe, die auf endlosen blauen Weiden grasten.
    Ich

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