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Die Stadt am Ende der Zeit

Die Stadt am Ende der Zeit

Titel: Die Stadt am Ende der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Bear
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fassen …
    »Sie veranstalten auch Feste«, fuhr sein Vater fort. »Und Wettkämpfe, die sie kleine Kriege nennen. Dabei prügeln die harten Jungs einander windelweich. Interessant, oder?«
    »Es gibt nichts Langweiligeres, als Träume zu erzählen. Das ist der Tod jeder Show. Hast du mir selbst erzählt, Dad.«
    »Na ja, aber dieser Traum ist wirklich spannend. Ich frage mich ständig, was im nächsten Traum passieren wird. Und irgendwie ist der Ablauf auch stimmig. Nur gestern, als wir in
dem Motel in Moscow übernachtet haben, hat sich der Traum verändert. Ich war zwar in derselben Welt, aber in einem anderen Teil davon. Manche der Leute waren größer. Und an die Kleineren gaben sie rote, gelbe und grüne Schutzanzüge aus, die wie geschmeidige Körperpanzer aussahen. Anzüge mit Selbstversorgungssystemen, wie Raumanzüge, nur liefern sie nicht nur Sauerstoff und Wärme, sondern auch … Das ist schwer zu beschreiben. Diese Anzüge halten Körper und Seele zusammen. « Ryans Stimme nahm einen ehrfürchtigen Ton an, so als wäre er völlig von der Realität seines Traums überzeugt und durchlebe diese Episode aufs Neue.
    »Du hast einen Alptraum gehabt«, sagte Jeremy. »Hast mich sogar aufgeweckt.«
    »Ja, weil du mich im Bett ständig mit deinem Gipsbein gestoßen hast«, erwiderte Ryan mit einem Blick nach hinten. »Halt mich bei Laune, Jeremy. Gerade jetzt wäre das schön. Die Fahrt ist noch lang.«
    Das tat so weh, dass Jeremy es als unfair empfand. »Ich hör dir doch zu, oder nicht?«
    »Wir werden nicht mehr allzu viele solcher Tage miteinander erleben, weißt du. Deshalb dachte ich, ich sollte dir vielleicht ein bisschen davon erzählen, was es für mich bedeutet, dein Vater zu sein. Sollte dir ein wenig väterliche Weisheit vermitteln, wie verrückt sie auch sein mag.«
    Jeremy wusste nicht, ob sein Vater in Selbstmitleid badete oder nur einen schlechten Witz ausspucken wollte.(Ryan bezeichnete das Erzählen von schlechten Witzen stets als ausspucken , so als huste man einen Fleischbrocken oder einen Schleimpropf aus der Luftröhre aus. »Wenn du einen Witz erzählen willst, und er bleibt dir im Hals stecken, halt besser den
Mund! Spuck ihn nicht aus, denn entweder ist es der falsche Witz oder das falsche Publikum.«)
    »Dann mach weiter mit deinen Enthüllungen«, sagte Jeremy und bereitete sich innerlich darauf vor, es mehr oder weniger stillschweigend zu ertragen, denn Ryan würde bald sterben. Dessen war er sich ziemlich sicher, auch wenn es ihm natürlich niemand ins Gesicht sagen wollte.
    »Also gut.« Ryan dachte einen Augenblick nach, so konzentriert, dass sich seine Stirn in Falten legte. »Diese Anzüge halten die Leute am Leben und als Gruppe zusammen, denn sie wollen zu einem düsteren, entsetzlichen Land aufbrechen, in dem es keine Regeln gibt. Trotzdem werden die Geschöpfe mit den kleinen Ohren – meine Freunde und ich – in diese unheimliche Region hinausziehen. Und die Überlegenen, die großen Kerle, rüsten uns dafür aus. Sie selbst werden nicht mitgehen, vielleicht, weil sie’s nicht können. Aber wir, die Kleinen, können es. Seltsam, wie?«
    »Absolut seltsam. Ich hab nie solche Träume.«
    »Wenn sich eine Situation verändert, verändern sich auch die Träume. Früher hatte ich ganz normale Träume. Von was träumst du?«
    »Von Straßen. Von Kröten und von Straßen.« Jeremy hatte sich eine recht komische Nummer über Kröten ausgedacht, die eine Straße überqueren. Sie war ebenso witzig wie makaber. »Aber ich würde gern von Mom träumen.«
    »Klar.«
    Eine Weile fuhr Ryan weiter, ohne etwas zu sagen.
    Mein Vater war gut beieinander, fast schon fett. Er wollte immer gern als Bühnenkomiker auftreten. Das hatte er Miriam Sangloss in der Klinik erzählt.
    Jeremys Vater hatte dünnes rotes Haar, ein rundes rötliches Gesicht und den Körper eines schwer arbeitenden Schaustellergehilfen: gut ausgebildete Muskeln, einen starken Knochenbau und eine Haut voller Sommersprossen, die aussah wie gebrüht. Jedenfalls hatte ihn Mom an jenem denkwürdigen Tag so charakterisiert, als sie Ryans Körper für eine Straßenparade in Waukegan mit den Motiven von wilden Tieren und Blumen bemalt hatte. Damals hatte sie in einem Film mitgespielt – endlich mal ein wirklich einträglicher Job –, und sie waren nach Abschluss der Dreharbeiten noch ein paar Wochen in Waukegan geblieben, im örtlichen Theater aufgetreten und hatten natürlich auch an dieser Straßenparade teilgenommen, was

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