Die Stadt am Ende der Zeit
habe mir damals das Bein gebrochen?
Plötzlich schmerzte ihn das Bein, und er beugte sich hinunter, um es zu reiben. Der Raum war immer noch leer.
Zum zweiten Mal öffnete Bidewell die Außentür, diesmal für Ginny. Falls er etwas zu ihr sagte, so hörte sie ihn nicht. Der hohe Gang hinter der Tür erstreckte sich über die ganze Länge des Lagerhauses. Die Luft roch kühl und schal. Sie blickte zur linken Tür, Jacks Tür. Sie war geschlossen, und von drinnen drang kein Ton heraus. Was dort auch passieren mochte, jedenfalls vollzog es sich lautlos.
Bidewell machte die Außentür hinter ihr zu.
Kurzatmig, fast so, als hätte sie Schluckauf, ging sie langsam auf die rechte Tür zu, steckte den Schlüssel ins Schloss, drehte ihn herum, griff nach dem Knauf, zögerte jedoch, »ihr« Zimmer zu betreten. Wie seltsam, dass sie diese Zuweisung ohne Widerrede hingenommen hatte.
Seit hundert Jahren war kein anderer durch diese Tür getreten. Also musste das, was da drinnen wartete, wohl für sie bestimmt sein.
Draußen setzte sich das entsetzliche, sinnlose Zerstörungswerk fort und zermahlte die Zeit und die Erde wie ein Häcksler
das Getreide, doch das war ihr gleichgültig. In diesem Raum, dachte sie, wird alles vielleicht ganz schnell vorbei sein. Soweit sie wusste – soweit sie es aus dem Alptraum wusste, den ihr anderes Selbst gerade durchlebte –, konnte niemand mehr die Situation zum Guten wenden, nicht einmal die Mutter aller Musen oder was Mnemosyne sonst sein mochte. Eine Gottheit. Eine Göttin. Ein Demiurg. Ehe- und Hausfrau des Schöpfers, die allen Schlamassel beseitigte. Gutherzige Schwester der entsetzlichen Kalkfürstin, die weiß war, obwohl sie eigentlich schwarz hätte sein müssen: Kali, kala , was in Sanskrit Zeit bedeutete. Diejenige, die sowohl ausbleichte als auch einschwärzte. Ginny hatte einige der Bücher gelesen, die Bidewell für sie ausgesucht und aus einem Regal mit dem Aufkleber NUNC, NUNQUAM herausgezogen hatte. Die Bücher behandelten vor allem die griechische und hinduistische Mythologie. Doch die darin enthaltenen Sagen schienen nicht ganz mit dem übereinzustimmen, was Bidewell ihr beschrieben hatte.
Die alte Zeit ist am Ende oder wird es bald sein. Es müssen neue Erinnerungen erzeugt werden. Es wird eine neue Zeit geschmiedet werden. Doch wer wird die Esse befeuern?
Die Erinnerung beginnt und endet mit der Zeit.
Diese Worte oder Eindrücke (denn eigentlich war es weniger der Text als ein tiefes inneres Gefühl gewesen, das Ginny beim Lesen zu schaffen gemacht hatte) machten sie plötzlich wütend. Bidewell machte sie wütend. Jack und Daniel machten sie wütend. Keiner von ihnen passte in irgendein Leben, das sie sich wünschte. Sie wollte nur noch raus, musste von hier weg, wollte zwischen den Weltlinien hin und her springen, alle kappen und davontreiben lassen.
Doch anstatt kehrtzumachen und wegzulaufen, griff sie erneut nach dem Knauf der ihr zugewiesenen Tür und drehte ihn mit aller Kraft herum (wobei sich ihr Gesicht verzerrte, denn er klemmte). Plötzlich schwang die Tür auf und gab den Blick auf den Raum dahinter frei, der im rechten Winkel zum Gang verlief und sich bis zur hinteren Mauer des Lagerhauses erstreckte. Durch ein oben in die Wand eingelassenes Fenster konnte sie die grellen, züngelnden Flammen der zerstörten Sonne sehen, der Sonne, die den sterbenden Mond verschlungen hatte.
Mitten im Raum stand ein alter weißer Stuhl, wie Bidewell angekündigt hatte. Nach einem Jahrhundert, in dem er in der Stille dieses Zimmers Hitze und Kälte ausgesetzt gewesen war, hatte sich die Farbe vom Sitz und von der Rückenlehne gelöst.
Ginny schluckte. »Ich bin jetzt da«, sagte sie, stellte sich neben den Stuhl und legte eine Hand auf die geschwungene Lehne. Gleich darauf fiel ihr ein, dass sie vergessen hatte, die Tür zu schließen. Sie wandte sich um, um zum Eingang zurückzukehren. Aber diese Tür war niemals geöffnet worden.
Ein Schatten machte ihr Platz und erhob sich vom Stuhl … Nein, ihre Augen hatten ihr nur einen Streich gespielt. Sie selbst war der Schatten.
Sie setzte sich.
Bidewell schloss die Außentür auf. »Beeilen Sie sich«, mahnte er Daniel. Mittlerweile erschütterte das sich ruckartig nähernde Chaos das ganze Lagerhaus.
Daniel fühlte sich äußerst selbstsicher. Mehr denn je. Er würde mit dieser Situation schon fertig werden, selbst mit dem
Terminus. Irgendeiner würde durchkommen – warum sonst waren sie alle hier
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