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Die Stadt am Ende der Zeit

Die Stadt am Ende der Zeit

Titel: Die Stadt am Ende der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Bear
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Spaß gemacht hatte.
    Damals war Jeremy elf gewesen. An den Fingern zählte er ab, wie viele Jahre diese Parade her war und wie lange seine Mutter danach noch gelebt hatte: vier Jahre.
    Der Dodge hatte Ryan und Jeremy quer durch Montana und Idaho bis nach Oregon gebracht.
    In Eugene legten sie einen Zwischenstopp ein, denn dort half Ryan vorübergehend bei einem kleinen Zirkus aus, dessen Besitzer früher mal Moms Freund und Liebhaber gewesen war. Ryan und der Zirkusbesitzer verbrachten einen Abend damit, sich zu betrinken und an den Schultern des anderen auszuheulen, was Jeremy überaus sonderbar fand.
    Danach fuhren sie von Eugene nach Spokane, quer durch die östliche Hochebene. Ihre letzte Reise.
    »Wir alle verlieren unsere Mütter«, sagte Ryan während der Fahrt. »Seit Beginn der Zeit ist jede Mutter irgendwann gestorben. Die Mutter von uns allen ist die Erinnerung , Jeremy.«
    Und jetzt – nunc – saß er auf diesem Stuhl.
    Alles steht für irgendetwas, nichts existiert an sich. Du nennst dich Jack, weil der Name dich schützt. Da so viele Menschen Jack heißen, kannst du dich hinter dem Namen verstecken. Allerdings ist es ein starker, allgemein verständlicher Name.
    Das Seltsame (unter all den anderen seltsamen Dingen in seinem Leben) war, dass er in diesem Raum ohne Vorbehalte glauben konnte, seine früheste Erinnerung, seine erste Lebenserfahrung sei diese Autofahrt mit seinem Vater gewesen. Was vorher gewesen war – der Tod seiner Mutter, der Reisebeginn, sein Beinbruch –, ähnelte den Geräuschen der sterbenden Stadt jenseits dieses hohen, leeren Raums: Es war präsent, aber nur als Hintergrund.
    Es gibt eine Zahl, wie man sie Büchern zuteilt, die auf einem nicht existenten Regal in einer fernen Zeit einsortiert sind. All diese Bücher warten darauf, dass man ihren Anfang und ihr Ende miteinander in Einklang bringt. Warten darauf, dass Entscheidungen fallen. Wo stammst du in Wirklichkeit her, Jeremy?
    Wer ist deine wahre Mutter?
    Und warum sucht sie nach dir?
     
    Ginny schloss die Augen. Sie war wieder in Milwaukee und danach in Philadelphia, war wieder bei ihren Eltern.
    Nur selten blieben sie länger als ein paar Monate an einem Ort. Und wenn sie weiterzogen, sorgten sie dafür, dass sie keinen nachhaltigen Eindruck hinterließen. Niemand würde sich je an sie erinnern. Sie hätten einige Jahre später in dieselben Städte zurückkehren, in dieselben Häuser einziehen können und wären als Neuankömmlinge begrüßt worden. Doch das taten sie nie.
    »Wir hinterlassen keine Fußspuren«, hatte die Mutter zur kleinen Ginny gesagt.
    Ginny wusste noch, wie sie versucht hatte, Freundschaften zu schließen, Jungs kennenzulernen. Irgendwann war es zwangsläufig dazu gekommen, dass die Familie – entmutigt und erschöpft von den ständigen Umzügen – allzu lange in einer Stadt geblieben war. Dort hatte die Erinnerung sie eingeholt und sich gegen sie gewandt. Ginnys Mutter war geflohen, vielleicht auch einfach verschwunden, jedenfalls war es so, als hätte sie jemand von einer riesigen Wandtafel gelöscht. Einige Wochen später war auch der Vater verschwunden. Vielleicht hatten Sammler wie der Mann mit der Münze oder Glaucous sie eingefangen. Oder die Eltern hatten sich geopfert, um Ginny zu schützen. Sie würde es nie erfahren. Es war so, als hätte ihre Familie nie existiert. Außer dem Bibliotheksstein gab es keinen Beweis dafür, dass Ginnys Eltern je gelebt hatten.
    Die Träume hatten begonnen, als sie ganz auf sich gestellt gewesen war und den Integralläufer ständig bei sich getragen hatte. Und sie hatte gemerkt, dass sie ihren Standort verlagern konnte.
    Hinter ihr lag ein langer Weg. Ihr ganzes Leben war ein einziger langer Alptraum gewesen. Beide Leben, hier wie dort . Es war die Neugier auf das dort , die sie in den gegenwärtigen Schlamassel gebracht hatte.
    Einige Wochen, nachdem Ginnys Vater verschwunden war, stieg sie in einen Greyhound-Bus. Durch das schmierige Fenster starrte sie auf die endlos vorbeiziehenden regennassen Felder und Hügel.
    In Philadelphia lebte sie ein paar Monate auf der Straße. Doch Obdachlose vergessen die meisten Dinge selbst dann,
wenn ihre Situation einigermaßen erträglich ist, und Ginny kam zu dem Schluss, dass sie so nicht leben wollte.
    Also trampte sie nach Baltimore, wo sie eine Adresse von einem Handzettel abriss, der an einer Anschlagtafel hing. Noch am selben Abend schleppte sie ihren Rucksack in ein altes Reihenhaus mit zwei Schlafzimmern,

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