Die Stadt am Ende der Zeit
das Gruftis und Raver in Beschlag genommen hatten. Sie war fest entschlossen, sich dort häuslich einzurichten, eine Weile zu bleiben und ein paar Fußspuren zu hinterlassen. Seit dem Verschwinden ihrer Eltern fühlte sie sich zum ersten Mal geborgen und zu Hause – jedenfalls eine Zeit lang.
Später verließ sie das Haus in Baltimore und rief die Nummer an, auf die sie in der Zeitungsanzeige gestoßen war.
Ginny sah zu der leeren Wand hinüber, zu der abblätternden Farbe, zu den Schatten, die sich langsam über die einander überlappenden Holzlamellen bewegten.
Hast du dich bewusst dafür entschieden?
Kannst du dir eine bessere Vergangenheit für dich vorstellen?
»Wer bist du?«, rief sie.
Keine Antwort. Dumme Frage. Sie kannte die Antwort ja schon, auch wenn sie ihr kaum einleuchtete.
»Wer oder was bin ich denn überhaupt? Ich kann mich eigentlich an kaum etwas vor dem Zeitpunkt erinnern, als ich diese Telefonnummer wählte. Soll das schon alles gewesen sein? Wer waren meine Eltern? Ich kann ja nicht einfach so aus dem Nirgendwo, aus dem Nichts aufgetaucht sein, oder?«
Höfliches Abwarten.
»Also gut«, fuhr Ginny wütend fort, fest entschlossen, bis zum Äußersten zu gehen. »Du hast es herausgefordert, also erzähle ich dir von meiner Vergangenheit. Ich stamme aus einem
Land namens Thule. Das ist eine große Insel nordwestlich von Irland. Den letzten Kontakt mit der Außenwelt hatte Thule … im Zweiten Weltkrieg. Die Deutschen haben meine Insel besetzt, doch wir haben sie noch vor Kriegsende rausgeschmissen. Auf den Gipfeln der hohen Hügel und Berge Thules standen riesige Steinburgen. Meine Eltern arbeiteten im königlichen Palast an der Südküste, während ich die Burgen auf den Hügeln verwaltete, wo der Prinz und die Prinzessin sich versteckten. Sie zogen jeden Tag in eine andere Burg um. Alle hatten Angst, nur meine Familie nicht. Meine Brüder und ich – ich hatte drei Brüder – schwangen uns oft mit Gleitseglern über die Klippen, und dabei habe ich mir einmal den Arm gebrochen …«
Irgendjemand lachte hinter ihr oder in ihrem Umkreis und freute sich über ihre Mutmaßungen. Plötzlich tat Ginny der Arm weh. Und mit dem Schmerz kamen die Erinnerungen zurück: Erinnerungen an die weiten rötlich braunen Äcker unterhalb der Steinburgen, an das süß duftende, stachelige Stroh, an den Geschmack des Wabenhonigs aus Thrakien in der frischen Frühlingsluft, an die Anteilnahme ihres Vaters, als der königliche Leibarzt ihren gebrochenen Arm ohne Betäubung wieder gerichtet und danach mit einem Brei aus Schweineschmalz und Weihrauchkräutern bestrichen hatte. Und später hatte sie für kurze Zeit einen wachsgetränkten Verband und eine Armschiene aus sauberem weißem Föhrenholz getragen …
Nach der Virgin Queen , der jungfräulichen Königin, hatte man sie auf den Namen Virginia getauft. Denn Elizabeth I., von 1558 bis 1603 Königin von England und Irland, hatte Thule einst die Hand zum Bündnis gereicht, um sich die Unterstützung
des Inselreichs im Kampf gegen Spanien zu sichern. Dieses Bündnis war in der Regierungszeit Jakobs des Ersten allerdings zerfallen.
Ginny grinste, denn sie genoss die Freiheit der Wahl. Sie konnte buchstäblich spüren, wie sie einen wunderbaren, bunt gefiederten Schwanz von Erinnerungen und Geschichte hinter sich her zog, eine pulsierende, vibrierende Vergangenheit, die jetzt lebendig wurde und die Leerstellen ausfüllte. Gerüche, Farben und Geschmacksnuancen wetteiferten darum, dass Ginny ihnen Wirklichkeit verlieh und sie festhielt.
Es war völlig real, nicht nur ihr eigenes Fantasiegebilde!
»O Gott«, sagte sie, und ihre Stimme hallte von den Wänden wider. »Es ist tatsächlich wahr, stimmt’s?« Sie spürte eine Leichtigkeit, eine Freiheit, die sie früher nicht gekannt hatte, und ihr wurde ganz schwindelig davon. Wieder einmal wechselte sie zu einer anderen Weltlinie hinüber, nur lag sie diesmal in der Vergangenheit.
Doch dann wies die Stimme sie sanft zurecht.
Es ist wirklich wunderbar – ein schöner Strang –, aber zu weit von dem entfernt, wo wir uns heute befinden. Es lässt sich nicht integrieren.
Jetzt noch nicht.
Erst später …
Die wunderbare Geschichte verschwand so schnell, wie sie aufgetaucht war, doch der Geschmack des thrakischen Honigs lag Ginny wie eine Belohnung für ihre Verwegenheit noch lange auf der Zunge.
»Aber du bist real, oder nicht?«, flüsterte sie. »Du bist real, und du bist schön. Aber du bist krank …
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