Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Stadt am Ende der Zeit

Die Stadt am Ende der Zeit

Titel: Die Stadt am Ende der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Bear
Vom Netzwerk:
fortan Jack nannte), drei Garnituren Oberbekleidung und fünf Garnituren Unterwäsche, die ihm zu groß waren – und, in einem Samtbeutel, das graue Kästchen. Als er es öffnete, sah er den gekrümmten Stein, der wie verbrannt wirkte. Verbrannt bis auf ein kleines, in den Stein eingebettetes rotes Auge, das selbst im Dunkeln zu funkeln schien.
    Der Stein, der kam und ging.
    Der Integralläufer.
    Ryan hatte ihm nie erzählt, wo er ihn aufgetrieben hatte. Vielleicht hatte er Jeremys Mutter gehört.
    Jacks Schicksal wandelte sich. Im Großen und Ganzen gesehen, wurde es nicht unbedingt besser, aber es wandelte sich.
     
    »Ich wäre gern … würde gern auf eine Vergangenheit zurückblicken, in der ich ein ganz normales kleines Mädchen mit Freunden war, auf eine gute Schule ging und gute Lehrer hatte. In der ich so wie die meisten anderen aufwuchs und mich irgendwann verliebte. Keine Träume hatte. Sollen Jack und ich uns ineinander verlieben, sind wir dazu bestimmt? Das scheint nämlich nicht einzutreffen, jedenfalls ist es bis jetzt noch nicht passiert.«
     
    Der Himmel da draußen wurde jetzt heller. Durch das hohe Fenster flackerte gelbes und grünes Licht, doch Jack wusste nicht, ob sich damit die Morgendämmerung ankündigte, und es war ihm auch egal. Vermutlich würde es nie mehr dämmern. Er hatte keine Lust, aufzustehen und umherzuwandern. Im Augenblick fühlte er sich so ganz wohl.
    »Wie lange soll ich noch warten?«
    Jetzt fiel vom Fenster her diffuses silbriges Licht auf die gegenüberliegende Wand.
    Immer noch keine Antwort.
    Dann:
    Was ist deine andere erste Erinnerung?
    Jeremy war selbst verblüfft, wie schnell ihm die Antwort kam. »Irgendetwas trägt mich. Ich bin noch klein, kenne erst wenige Wörter. Eine Tür geht auf, aber es ist eine seltsame Tür, denn sie schmilzt einfach weg. Und dann … Meine Mutter und
mein Vater stehen dort, doch man nennt sie nicht so. Trotzdem sind sie so etwas wie Eltern. Sie haben mich lieb. Sie sorgen für mich. Doch man wird sie mir nehmen.«
    Seine Miene wurde bitter. Er schlug die Beine übereinander und wollte sich zurücklehnen, doch der Stuhl ächzte unter seinem Gewicht. Er biss sich in den Zeigefinger. Was er gerade gesagt hatte, ergab keinen Sinn. Dennoch empfand er es als stimmig und real. »Danach hast du mich doch gefragt. Nach meiner anderen ersten Erinnerung. Ich weiß noch, wie es dort in meiner frühen Kindheit war. Dagegen erinnere ich mich im Hier und Jetzt nicht mehr an meine Zeit als Kleinkind. In dieser Welt bin ich weniger real als in meinen Träumen … Da ist doch was faul, das ist doch völlig abgefahren. Es ist ein absolut verrücktes Gefühl, das kannst du mir glauben. «
    Plötzlich zutiefst verängstigt, blickte Jeremy sich im Zimmer um. Er empfand jetzt mehr Angst als in dem Sack im Heck des Van. Mehr Angst als in dem Augenblick, als er zerschrammt und klitschnass auf der bizarr veränderten Straße gelegen hatte, die Hand in der Gosse, in der sich der kalte Gewitterregen gesammelt hatte. »Angeblich bist du doch Mnemosyne, oder nicht?«
    Eine Brise zog durch den Raum, kühl, aber nicht unangenehm, zerrte an seinem Hemd und ließ seine Hosenbeine flattern. Spielerisch. Traurig. Er blinzelte und rutschte auf dem Stuhl hin und her, dann lauschte er nur noch. Von draußen drang leise ein zischendes Geräusch herein, das eher nach fallendem Sand als nach Wind klang. Sonst nichts. Es hörte sich so an, als riesele irgendwo Sand hinunter oder als liefen winzige Wellen in schneller, endloser Folge an einem Strand auf.
Der Raum war dunkel. Durch das hohe Fenster war kein Anzeichen einer Morgendämmerung zu sehen.
    Jeremy – nein, jetzt war er wieder Jack – hatte keine Ahnung, wie viel Zeit verstrichen war. Er blickte über die Schulter. »Hallo?«
    Das einsame Fenster da oben wirkte eher wie eine pechschwarze Grube. Er konnte nicht einmal dessen Rahmen oder viel von der Wand erkennen. Jetzt kam ihm der Raum viel kälter vor.
    »Alles, was ich zu wissen glaube, ist falsch.« Jack lächelte und verschränkte die Arme. »Hab’s kapiert. Ich bin bereit.«
    Er würde nicht einfach aufstehen und den Raum verlassen, denn das würde den anderen nur beweisen, dass er ein Feigling war, nicht fähig, ihren blöden Test, der sowieso nichts brachte, bis zum Ende durchzustehen.
    »Schlimmen Situationen entziehe ich mich durch einen Sprung. Das würde jeder machen, wenn er könnte«, sagte er Stunden später.
    Wen schützt du, und wen lässt du dabei

Weitere Kostenlose Bücher