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Die Stadt am Ende der Zeit

Die Stadt am Ende der Zeit

Titel: Die Stadt am Ende der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Bear
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Morgendämmerung ersetzte, bis zu den Dachluken des Lagerhauses vorgedrungen war. Bei der Berührung drehte sie sich herum, schlug die Augen auf, sah aber durch ihn hindurch. Der innere Friede, der sie nach ihrer geheimnisvollen Begegnung in dem Zimmer erfüllt hatte, war verschwunden. Jetzt nagten wieder Sorgen und Angst an ihr, besonders wenn sie schlief. Und inzwischen schlief sie fast ständig, während Jack die meiste Zeit hellwach war. Seit er in dem leeren alten Zimmer gewesen war, hatte er immer nur kurz geträumt, und in seinen Träumen war kaum etwas passiert.
    »Sie sind riesig«, murmelte Ginny. »Sie sind wie stechende Strahlen, aber auf einer Seite haben sie Gesichter. Ihre Arme und Beine verursachen Vertiefungen auf den Wegen, auf denen sie entlanghuschen. Sie laufen darüber wie Wasserwanzen über einen Teich. Sie fegen so schnell vorbei, dass man sie nicht erkennen kann. Es sei denn, sie entdecken dich als Erste. Und wenn sie dich erwischen, ist alles vorbei.«
    Jack, der Gefühle auffing, die nicht seine eigenen waren – jetzt noch nicht –, wischte sich eine Träne von der Wange. »Wo bist du?«, fragte er.
    »Wir sind weit von der Stadt entfernt, ich weiß nicht, wie weit. Hier draußen ist es immer Nacht, immer dunkel. Die Sonne strahlt kein Licht aus, sie schimmert nur an den Rändern. Wir werfen nicht mal richtige Schatten. Der Schutzpanzer sagt, das Chaos sei hier dünn. Manche der alten Regeln gelten hier noch. Wir können sogar unsere Helme ablegen und die Luft atmen. Aber wenn man tief einatmet, gefrieren einem die Lungen. Gut, dass wir Pelz auf den Nasen haben.« Sie blickte sich um, als suche sie nach seinem Gesicht, erkannte aber weder das Lagerhaus noch Jack. »Kommt da irgendetwas auf uns zu?«
    »Das weiß ich nicht«, erwiderte er mit gequälter Miene. »Du bist mir weit voraus.«
    »Der Leitstrahl summt immer noch in unseren Helmen, und das ist wunderschön … Es ist das Einzige, was uns Orientierung gibt. Nach wie vor sind die Entfernungen unberechenbar, aber wir marschieren trotzdem immer weiter. Ich glaube, das Chaos weiß, dass wir hier sind, nur ist es ihm egal. Es hat sich vollgefressen, hat sich fast alles einverleibt … Aber wir sind schwer verdaulich. Zwar hat es längst gesiegt, aber es behält
uns im Auge, in seinem riesigen Auge. Der Zeuge ist allgegenwärtig. Mein Gott, ich hoffe nur, dass wir ihm nicht zu nahe kommen!«
    »Wem?«
    »Das lässt sich nicht in Worte fassen. Die andere Stadt ist nicht … ist nicht mehr so, wie sie einmal war. Irgendetwas Entsetzliches ist an ihre Stelle getreten. Ich weiß es, aber ich kann es ihr nicht sagen. Jack … Sie weiß es nicht. «
    Jack legte den Kopf auf Ginnys Brust und die Hand über ihre Augen. Dieser suchende, entrückte Blick …
    »Ich werde da sein«, flüsterte er.
    »Es ist zu spät«, erwiderte sie. »Sie haben uns entdeckt.«
    Sie ließ sich zurück aufs Bett sinken. Jack strich ihr über die Stirn, dann stand er auf. Er konnte es nicht ertragen, so hilflos mit ansehen zu müssen, wie sehr sie litt. Als er die Nische verließ, stieß er die Kartons aus dem Weg.
    Bidewell saß in einem Sessel am Ofen und las in einem dünnen grünen Buch. Das Gesicht des Alten wirkte so ätherisch, als werde es sich demnächst in Nebel oder Glas verwandeln. Ellen kam aus dem Hauptlager herein, in den Händen einen Strickbeutel. Auch sie hatte ihr Büchlein dabei, wie zu sehen war, denn es zog den Beutel an einer Seite herunter.
    »Wo sind die anderen?«, fragte Jack.
    »Hier gibt es nichts mehr für sie zu tun«, erwiderte Bidewell. »Sie versuchen ihre Lieben zu erreichen.«
    »Ich dachte, sie hätten keine Angehörigen.«
    »Nur ihr seid von jeher wirklich allein.« Seltsamerweise schwang Neid in Bidewells Stimme mit. »Unsere Zeit innerhalb dieses Zyklus ist fast verstrichen, während eure gerade beginnt. «
    Voller Hoffnung und zugleich gequält blickte Ellen zu Jack hinüber. Er sah, dass Ellen und Bidewell geweint hatten und fühlte sich unbehaglich, deshalb zog er weiter. Im Anbau fand er Daniel, der dort unter den fast leeren Bücherregalen saß und in einem großen dicken Band blätterte. Daniel sah genauso erschöpft aus, wie Jack sich fühlte. Irgendwie machte ihn das sympathischer.
    Als Jack näher kam, legte Daniel das Buch zur Seite. »Ich hörte die Tür gehen«, sagte er.
    »Drei der Frauen sind gegangen.« Jack musterte Daniels Gesicht und suchte nach irgendeinem Anzeichen von Falschheit, konnte aber nichts

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