Die Stadt am Ende der Zeit

entdecken, das ihm missfiel oder gar Argwohn in ihm weckte. Glaucous musste dahinterstecken, dass er jetzt plötzlich so etwas wie Sympathie für Daniel empfand. Er erkannte die Symptome wieder; sie waren zwar nicht so offensichtlich, erinnerten ihn aber an seine Gefühle bei der ersten Begegnung mit dem Jäger. Aber warum sollte Glaucous Daniel schützen?
    Vielleicht wollte er ihn zu seinem neuen Partner machen?
    »Von draußen ist nicht viel zu hören«, erklärte Daniel. »Und hier drinnen tut sich schon gar nichts. Komm, wir gehen noch mal nach oben und sehen uns um.«
     
    Vorübergehend hatten sich die Vorhänge und Falten oberhalb der Stadt geteilt und gaben den Blick auf pechschwarze Dunkelheit und einen Himmel voller Sterne frei, aber irgendetwas stimmte ganz und gar nicht. Genau wie der Mond wirkten die Sterne wie verschmiert oder verzerrt, waren von Ringen in Regenbogenfarben umgeben, und ihr Licht wurde ständig schwächer.
Einer nach dem anderen erlosch wie ein sterbendes Glühwürmchen.
    »Alles wird geschluckt«, bemerkte Jack. »Der Mond, die Sterne …«
    »Da hast du Recht, aber wir müssen es bis zum Ende durchdenken. Was wird geschluckt? Und wann ? Ich glaube durchaus, dass dieser hässliche Sonnenbogen, was er auch sein mag, sich gerade den Mond einverleibt, denn das können wir mit bloßem Auge erkennen. Aber die Sterne sind dazu doch viel zu weit entfernt. Es sei denn …« Er rieb sich die Stirn. »Es sei denn, die Vergangenheit wurde als Erstes geschluckt. Und das würde bedeuten, dass alles, was hinter uns liegt, bereits verschlungen wurde, sowohl der Raum als auch die Zeit … Diese Sterne existieren gar nicht mehr, nur prallen ihre letzten Lichtwellen vom Terminus ab und verlieren jetzt an Kraft. Und wir sind wie das Kerngehäuse eines Apfels, die Samen, die als Letztes an die Reihe kommen.«
    »Kerne. So nennt Bidewell die Steine.«
    »Ach, der redet doch nur Unsinn, Jack.«
    »Trotzdem: Von irgendeinem Ort erstreckt sich irgendetwas bis zu uns zurück«, entgegnete Jack.
    Mit zusammengezogenen Brauen dachte Daniel darüber nach, und aus seinen runden Wangen wich dabei alle Farbe. Schließlich sah er Jack mit verkniffener Miene an, die sowohl Zweifel als auch Neid ausdrückte. »Also gut, du Zauberlehrling. Du weißt etwas.«
    »Es liegt doch auf der Hand, dass irgendjemand, irgendetwas mit uns herumspielt und die Steine hierher zurückgeschickt hat, genau wie Bidewell behauptet.«
    »Wie er angedeutet hat«, berichtigte Daniel.
    »Und auch dieses Wesen, das die Jäger beherrscht – die Kalkfürstin, Glaucous’ Bleiche Gebieterin – könnte aus der Zukunft stammen. Aber das, was mit uns herumspielt, befindet sich nicht mehr in der Zukunft; vielmehr drängt es uns mit aller Kraft gegen die Zukunft oder das, was von dieser Zukunft noch übrig ist, stimmt’s?«
    »Bis jetzt kann ich dir folgen.« Dass Jack plötzlich theoretisierte, verblüffte Daniel.
    »Also bekommen wir jetzt nur die letzten Nachwirkungen zu spüren. Was auch geschehen mag: Es ist bereits geschehen. An diesem Ort. Nur das Lagerhaus ist bislang nicht davon betroffen. Genauso wenig wie wir.«
    »Und warum nicht? Wegen der Steine? Oder wegen Bidewells verrückter Bibliothek?«
    Beide konnte jetzt nichts mehr schockieren, nicht einmal mehr verblüffen. Sie starrten auf die zerstückelte Stadt und sahen einander an. Ihre Blicke drückten aus, dass sie nur eines überraschte: dass sie immer noch am Leben waren, immer noch denken und miteinander reden konnten.
    »Vielleicht wegen beidem«, erwiderte Jack. »Im Augenblick sind wir noch in Sicherheit, aber dieser Augenblick wird furchtbar schnell vorüber sein. Und dann werden wir etwas unternehmen müssen.«
    »Was denn?«
    Jack schüttelte nur den Kopf.
    Die Stadt rings um das Lagerhaus war zu einer wüsten Szenerie erstarrt, zu einem Wirrwarr aus zerstörten Gebäuden, träge dahinfließendem Brackwasser und Wolkenfetzen, die den übel zugerichteten Himmel kaum verbergen konnten. Als der letzte Ausläufer des hässlichen Feuerbogens sich bis
unter den Horizont senkte, leuchteten die Wolken blutrot auf und verblassten danach zu düsterem Braun. An manchen Stellen tauchten orangefarbene und grüne Flammenspiralen die unteren Wolkenränder in ihr unstetes Licht.
    »Die ganze Stadt ist jetzt eine Wundertüte aus Vergangenheit und Gegenwart«, sagte Daniel. »Falls du Recht hast, könnte das bedeuten, dass diese Kalkfürstin immer noch da draußen ist und wartet, bis die Dinge