Die Stadt am Ende der Zeit
wird kälter und kälter.« Sie schlug den Kragen ihres praktischen grauen Wollmantels hoch. Solche Mäntel trug man in Seattle fast das ganze Jahr über.
Agazutta wandte sich einem verkrusteten Fenster mit zerbrochenem Rahmen in der Wand unmittelbar neben ihr zu. Hinter dem staubigen Glas war nur pechschwarzes Dunkel zu sehen. Im Staub waren Hand- und Fingerabdrücke zu erkennen, als wären hier Menschen mit ausgestreckten Armen entlanggegangen und hätten die Mauern und das Fenster abgetastet, um sich in der Dunkelheit an irgendeinem festen Punkt zu orientieren. Und dann waren sie einfach verschwunden.
Als Agazutta auf die Fensterscheibe starrte, merkte sie, dass das Spiegelbild, das zurückstarrte, nicht ihr eigenes war. Und dieses fremde Gesicht wirkte keineswegs glücklich. Mit einem leisen Aufschrei fuhr sie zurück, und das Gesicht verblasste.
Im Südwesten, rings um Bidewells Lagerhaus, schienen sich herumwirbelnde Wolkenfetzen zu einer Säule zu verbinden. Zugleich drang ein hoher Orgelpfeifton zu ihnen herüber, der so klang, als pfeife eine aufgebrachte Mutter nach ihren Kindern.
»Bloß runter von dieser Straße«, sagte Farrah. »Egal wohin. Alles ist besser als das hier, selbst eine Bibliothek.«
Als sie quer durch den Schotter weitergingen, zerbröselte er unter ihren Schritten wie Schaumgebäck. Sie wandten sich in die Richtung, die früher einmal Norden gewesen war, und liefen auf die große Bibliothek zu.
Im Inneren wirkte die Bibliothek bemerkenswert unversehrt: verlassen, aber kaum berührt von den Veränderungen jenseits ihrer hohen, von Aluminium eingefassten Glaswände. Im Foyer und auf den Treppen zu den oberen Etagen herrschte Stille – Stille und Leere.
Agazutta lehnte sich gegen einen Schreibtisch und hustete in ihr Taschentuch. »Wir werden uns da draußen noch Staublungen holen.«
»Da draußen hat sich der Staub von Jahrhunderten gesammelt. « Miriam holte ihr Büchlein aus der Leinentasche und streckte es so hoch, dass die anderen beiden Hexen es sehen konnten. Auch sie zeigten, dass sie ihre Bändchen noch bei sich hatten, die Bücher, die Bidewell ihnen vor Jahren geschenkt hatte, als sie die Arbeit für ihn aufnahmen.
»Bücher sind etwas Besonderes«, sagte Miriam. »Sie haben viel größere Bedeutung, als ich ihnen je zugemessen habe. Damit will ich nicht sagen, dass ich Bücher nicht mag. Aber seht euch doch mal um: Die Bibliothek hat kaum Schaden erlitten. «
Agazutta fummelte an dem Messingverschluss ihres Büchleins herum, doch Farrah streckte die Hand aus, um sie davon abzuhalten. Seufzend verstaute Agazutta das Buch wieder in der Tasche.
»Die Bücher mögen einen ja irgendwie schützen, aber die Bibliotheksangestellten haben davon offenbar nicht sonderlich profitiert.«
»Vielleicht haben sie das Gebäude verlassen«, erwiderte Miriam, doch es schwang Zweifel in ihren Worten mit.
»Ich kann mich überhaupt nicht mit dem Gedanken anfreunden, dass wir was ganz Besonderes sind«, erklärte Farrah. Als die anderen sie verwirrt ansahen, vielleicht auch leicht gereizt, setzte sie mit völlig untypischer Naivität nach: »Ich will nämlich nicht das Schlusslicht von irgendwas sein, schon gar nicht die letzte alte Frau auf dieser Welt.«
»Was bedeutet hier schon alt?«, fragte Agazutta.
»Ich wäre jetzt gern in meiner Klinik«, erklärte Miriam unvermittelt.
»Die Zeit ist abgelaufen, nur für uns noch nicht«, bemerkte Farrah voller Bitterkeit und deutete auf die hohen, breiten Fenster, die sich mit Frost zu überziehen begannen. Dunkle Raureifkristalle krochen wie eisige Schatten daran hoch.
Farrah war hinter den verlassenen Auskunftsschalter getreten und streckte einen dicken Band der Cambridge Ancient History hoch. Als sie ihn aufschlug und darin blätterte, tropfte eine dunkle silberne Flüssigkeit heraus und sammelte sich zu ihren Füßen. Miriam beugte sich zu der schimmernden Pfütze hinunter, um sie zu untersuchen, tauchte die Finger hinein und streckte sie hoch. An ihren Fingerspitzen hafteten dunkel schillernde Regenbogen aus Buchstaben – Wörter, wie aus Erz gebildet.
»O je!« Agazutta zog sich von der nahen Treppe zurück, denn aus dem Spalt der Fahrstuhltüren sickerte eine dünne, dunkle Flüssigkeit, während sich ein anderer, dickerer Strom über die Stufen ergoss. Die Frauen traten den Rückzug an.
Beide Rinnsale verbanden sich miteinander, als sie den Betonfußboden der Halle erreicht hatten.
Farrah, die immer noch hinter dem Schalter
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