Die Stadt am Ende der Zeit
ertappte sich dabei, dass sie tatsächlich die Hände rang – eine Geste, die sie nur aus Märchen kannte. Nie hätte sie gedacht, dass sie zu einer solchen Geste fähig war. Doch die wiederholte Bewegung und der Druck ihrer starken gekrümmten Finger gaben ihr ein wenig Trost.
Sie runzelte so heftig die Stirn, dass sich Furchen und Falten darauf bildeten und ihr das eigene Gesicht wie das einer uralten Frau vorkam. Diese Luft schien ihren Alterungsprozess zu beschleunigen. Vielleicht machte der Terminus jetzt kurzen Prozess mit ihr, schnitt ihr abrupt die Weltlinie ab, wie eine unerbittliche schweigende Norne, eine der drei nordischen Schicksalsgöttinnen.
Jetzt musste sie mit allem rechnen.
Ihr blieb nichts anderes übrig, als weiterzuziehen.
Erst quietschte der Notausstieg in der Dachmitte, dann ging die Tür mit lautem Krachen auf. Als sie zurückschwang, gab Ellen ihr einen weiteren Fußtritt und trat auf die Holzplanken hinaus. »Wir haben sie nur einen Moment aus den Augen gelassen! «, rief sie, blieb stehen, holte tief Luft und schirmte die Augen gegen das grelle Licht der Aurora ab.
Anstatt etwas zu erwidern, rannte Jack so schnell zum Notausstieg, dass seine Schultern gegen die Mauern prallten,
schwang sich auf die Leiter und kletterte wie ein Affe nach unten.
Daniel folgte ihm mit mehr Bedacht und überlegte nüchtern, wie er die Situation am besten für sich nutzen konnte. Als er an Ellen vorbeiging, starrte sie ihn an und konzentrierte sich auf sein Gesicht, denn sie wollte nicht mehr vom Himmel und von der Landschaft sehen, als sie unbedingt musste.
»Das Mädchen ist also abgehauen?«, fragte Daniel.
Wegen der ständig neuen Schocks, die sie verarbeiten musste, war Ellens Gesicht schon vorher kreidebleich gewesen. Ginnys Flucht hatte ihr gerade noch gefehlt. Sie verschränkte die Arme und nickte. »Und wir sollten sie doch beschützen.«
»Wir gehen sie suchen«, sagte Daniel. »Das Lagerhaus wird sowieso nicht mehr lange standhalten.«
80
Die Innenstadt
Die Hexen konnten nicht eine einzige Straße finden, die sie wiedererkannten.
Die ganze Innenstadt hatte sich aufgelöst, und die Einzelteile waren in einem wilden Durcheinander unterschiedlicher Epochen gelandet. Die einzigen Bauten, die vertraut wirkten, beherbergten Buchhandlungen. Manche, die schon vor Jahrzehnten geschlossen hatten, waren plötzlich aus der Versenkung aufgetaucht und bewarben die leeren Straßen mit vergilbten Schildern. Aber ihre Innenräume lagen verlassen da; hier gab es weder Bücher noch Leser.
Agazutta, Farrah und Miriam gingen eng untergehakt und tauschten hin und wieder leise Scherzworte, die recht bemüht klangen – die letzten kleinen Ermutigungen, die sie einander geben konnten. Doch angesichts des entsetzlichen Zustands ihrer einst so schönen Stadt schafften sie es nicht, die Angst voreinander zu verbergen.
»So hab ich mir das nie vorgestellt«, sagte Miriam. »Ich dachte, ich würde im Bett sterben.«
»Allein und ungeliebt?«, fragte Agazutta mit ironischer Miene. »Dann vielleicht doch lieber so.«
»Spuck ruhig aus, was du denkst.«
»Hab ich schon immer getan.«
»Mädels«, Farrah schob sie mit leichtem Nachdruck um eine graue, zerklüftete Eckwand, »das ist die Fifth Avenue.«
»Mein Gott, sind wir schon so weit gegangen?«, fragte Miriam.
»Ich weiß nicht genau, was weit inzwischen bedeutet«, erwiderte Agazutta.
Als sie einen Augenblick stehen blieben, strich der kühle Wind, der voller Staub war, wie eine weiche tote Hand über sie hinweg.
»Ich glaube, da liegt Norden.« Farrah wischte sich Staubkörner aus den Augen und runzelte so heftig die Stirn, dass sich noch tiefere Falten bildeten. »Was jetzt?«
»Einen Straßenblock weiter steht ein Gebäude, das ich wiedererkenne«, sagte Miriam. »Die Zentralbibliothek.«
»Haben wir nicht allmählich genug von Büchern?«, fragte Farrah.
»Meiner Meinung nach haben wir es nur unseren kleinen grünen Büchern zu verdanken, dass wir es überhaupt bis hierhergeschafft
haben«, entgegnete Miriam. »Vielleicht können wir in ein höheres Stockwerk steigen und uns da oben orientieren. «
»Ich schlage vor, wir gehen nach Osten, in diese Richtung.« Farrah streckte die Hand aus. »Jedenfalls halte ich das immer noch für den Osten. Falls die Schnellstraße noch existiert, ist sie ganz in der Nähe.«
»Mein Haus liegt aber im Norden«, wandte Agazutta ein.
»Ich weiß nicht, ob wir’s bis dahin packen«, bemerkte Miriam. »Es
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