Die Stadt am Ende der Zeit
stand, schüttelte die letzten Tropfen aus dem Geschichtsbuch und hielt es hoch. Im trüben Licht wirkten die Seiten so rein wie unberührter Schnee.
Miriams Miene drückte erst Verblüffung, dann Resignation und so etwas wie Begreifen und schließlich Schicksalsergebenheit aus. »Behaltet eure Bücher nahe bei euch«, mahnte sie. »Das hat Bidewell ständig betont: Ohne Leser tun Bücher unvorhersehbare Dinge.«
»Sie warten auf neue Protagonisten und neue Geschichten«, sagte Agazutta.
»Etwa auf uns ?« Farrahs Stimme klang so dünn wie die eines verängstigten Kindes.
»Nein, Liebes«, erwiderte Miriam. »Wir sind noch nie sonderlich wichtig gewesen.«
Inzwischen hatte Farrah das Geschichtsbuch auf dem Schalter abgelegt und strich wie eine Bibliothekarin mit der Handfläche über die leeren Seiten, um sie zu glätten und voneinander zu lösen. Bei der Berührung tauchten dort wieder Buchstaben auf, in scheinbar zufälliger Anordnung – ein unlesbarer Text, der Keim einer Geschichtsschreibung, die nur darauf wartete, dass erneut Geschichte gemacht wurde. Deshalb hatte Farrahs Stimme so verhalten geklungen. »Bist du dir da sicher?«, fragte sie.
»Du meine Güte!«, seufzte Miriam anstelle einer Antwort.
81
Ginny
Als Ginny einen kleinen Buckel aus schwarzem Gestein hinaufstieg und dahinter den zähen Strom einer schillernden Flüssigkeit entdeckte, geriet sie ins Stolpern, denn dieser Strom floss den Hügel hinauf statt hinunter. Die Flüssigkeit glitt auf sie zu, schlug dann aber einen Bogen nach rechts. Was diese Flüssigkeit auch sein mochte: Sie würde lieber einen Umweg machen, als hindurchzuwaten.
Sie hatte nicht viel Trinkwasser mitgenommen, nur eine Literflasche aus Plastik, die in ihrem Rucksack von einer Seite zur anderen fiel. Aber sie war nicht durstig und auch nicht hungrig oder müde. Es kam ihr so vor, als wären seit ihrem Aufbruch nur wenige Minuten vergangen, obwohl sie doch viele Kilometer gelaufen sein musste.
Der praktische Teil ihres Verstandes meldete sich plötzlich mit einer wichtigen Frage. Ginny konnte sich nur wundern, dass sie erst jetzt daran dachte: Wer oder was leitet mich eigentlich?
Sie griff in ihre Manteltasche, berührte den Stein und spürte, wie er sich, endlich freigesetzt, in ihren Fingern drehte. Doch wenn sie ihn in die Gegenrichtung zu zerren versuchte – in die Richtung, aus der sie gekommen war –, widersetzte er sich, was selbst innerhalb der engen Manteltasche zu spüren war. Er verfolgte eine bestimmte Richtung, zog diese Richtung allen anderen vor. Zerrte sie regelrecht in die Richtung, auf die sie gerade zustrebte.
»Ich bin der Stein, und wir sind eins«, sang Ginny mit rauer Stimme leise vor sich hin und empfand dabei so etwas wie Beruhigung, ein Gegengewicht zu ihrer Angst.
Erneut zog der Feuerbogen am Horizont vorbei. Um ihre Augen vor dem schmerzenden Licht zu schützen, senkte sie den Blick von diesem trügerischen Himmel. Plötzlich schoss ihr etwas durch den Kopf, und sie schrie leise auf: Jetzt habe ich den letzten Ort auf dieser Erde hinter mir gelassen, der noch nicht Teil dieses Alptraums ist.
Ich gehe direkt in Tiadbas Chaos hinein. Wo liegt ihre Stadt?
Wo liegt die Kalpa?
Während sie den Stein umklammerte, strömten ihr Wörter in den Kopf, sehr vertraute Wörter. Jetzt meldete sich die Stimme, die sie noch nie mit eigenen Ohren gehört hatte und doch so genau kannte, und ließ all das erwachen, was Ginny schon vor langer Zeit offenbart worden war:
Du bist angekommen.
Du bist jetzt mitten im Chaos.
Such mich.
Finde deine Schwester.
82
Das grüne Lagerhaus
In dem kleinen Abstellraum, umgeben von kaputten Kartons und Stapeln beschädigter Kisten, lehnte Glaucous sich auf dem engen Feldbett zurück, überdachte alles, was er erlebt und getan hatte, rief sich alle Geschöpfe ins Gedächtnis, die er eingefangen und ihrem Ende zugeführt hatte: Vögel, die er verkauft oder den Ratten vorgeworfen hatte; Kinder, die er zu Dutzenden der Kalkfürstin ausgeliefert hatte.
In großem Maßstab betrachtet, aus der zweifellos kosmischen Perspektive von jemandem wie der Gebieterin, fiel das alles kaum ins Gewicht. Ihn plagte nicht so sehr ein schlechtes Gewissen als das Gefühl, irgendetwas müsse aus dem Gleichgewicht geraten sein, doch er versuchte gar nicht erst, diesem Gefühl auf den Grund zu gehen. Vielleicht begriff Daniel ein wenig von dem, was da draußen geschah. Aber Glaucous fürchtete, dazu schon zu alt zu sein, allzu sehr
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