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Die Stadt am Ende der Zeit

Die Stadt am Ende der Zeit

Titel: Die Stadt am Ende der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Bear
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ihnen überhaupt Zeit blieb, sich dahin zu entwickeln.
    Mit klammen Fingern drehte sie den Stein in ihrer Manteltasche hin und her. Bidewell hatte ihr diesen Mantel gegeben, einen schweren Wollmantel, der aus Beständen der Britischen Luftwaffe stammte und mindestens sechzig Jahre alt war. Mit der anderen Hand zog sie das Maschendrahttor nach innen auf.
    Die letzten verstreuten Wolkenfetzen wurden von blassgrünen und gelblichen Flammenbögen angestrahlt, die kurz aufflackerten und danach vorbeizogen. Wie Nordlichter, dachte Ginny, aber intensiver und keineswegs schön. Oberhalb der Wolken war nichts als ein völlig leeres Himmelsgewölbe zu sehen. Besser nicht nach oben schauen! Doch genauso entsetzlich war der Anblick der Straßen, der abrasierten, zerlegten und neu zusammengesetzten Gebäude, über die schwarzes Eis kroch, und der wenigen Menschen, die der Terminus zurückgelassen hatte. Auch die Menschen waren deformiert, versteinert und mit dieser wachsartigen Eisschicht überzogen. Rasch heftete sie den Blick auf ihre Füße und ging so schnell weiter, wie es in dieser Luft, die sich ständig weiter verdichtete, überhaupt möglich war.
    Es kam ihr so vor, als wäre sie von einer Blase umgeben, befände sich innerhalb eines unsichtbaren geschützten Raums. Vielleicht brachte der Stein diese Wirkung hervor, sie wusste es nicht. Jedenfalls ähnelte die Blase einem Lufteinschluss, wie ihn ein tauchendes Insekt unter einer Wasseroberfläche erzeugt. Doch die Blase konnte jeden Augenblick platzen, und dann würde das schwarze Eis ihre Adern erstarren lassen, und etwas Fremdartiges würde durch ihre blinden Augen nach draußen spähen …
    Sie warf einen Blick zurück, was keine gute Idee war, aber sie konnte nicht anders. Selbst die trübe Atmosphäre schaffte es nicht, das helle bläuliche Licht, das vom Lagerhaus ausstrahlte, gänzlich zu verhüllen. Soweit sie sehen konnte, war das Lagerhaus das einzige Gebäude, das weder zerstört noch so umgemodelt war, als hätte ein Kind mit Bauklötzchen gespielt. Sie wünschte denen da drüben alles Gute.
    Das Lagerhaus wurde so schnell kleiner, als lege sie mit jedem Schritt Dutzende von Metern zurück. Eine völlig neue Art der Fortbewegung: Die ramponierten Laufschuhe hatten sich in Siebenmeilenstiefel verwandelt …
    Ginny hob die Arme und überlegte, ob sie es mit purer Willenskraft auch schaffen würde zu fliegen, doch es tat sich
nichts, also marschierte sie weiter. Der Boden aus gesprungenem Zement und Asphalt ging in weichen grauen Lehm über und bald darauf in etwas Dunkleres und Härteres: eine klebrige Kruste, die altem Lavagestein ähnelte, jedoch dünner war und unter ihren Schritten knackte. Sie konnte nur hoffen, dass ihre Füße oder ihr ganzer Körper nicht in dem feinen grauen Staub versanken, der unter der durchfurchten Kruste aufstieg.
    Während dieses merkwürdigen Ausflugs bestand ein Teil ihrer Gedankengänge aus den Einwänden einer rationalen, praktisch denkenden jungen Frau, die besagten: Dass du das Lagerhaus verlassen hast, ist schlimmer als Selbstmord. Aber diese Gedanken versicherten ihr auch, die ganze Situation könne unmöglich real sein. In der zerstörten, erstarrten, leeren Welt des Terminus – der dünnen Schicht zwischen Leben und Untergang – müsse es eine Antwort auf diesen Wahnsinn geben, einen Fluchtweg, eine Tür oder Luke, durch die sie entwischen könnte. Und dann wirst du auf der anderen Seite in realem Sonnenschein oder in realer Dunkelheit wieder herauskommen, unter realen Sternen, unter einem realen Mond dahinspazieren … Wirst wieder richtig schlafen und normale Träume haben. Wirst dich in einer realen Stadt befinden, nicht in diesem heillosen Chaos.
    Doch dann blickte sie von ihren von Staub verhüllten Füßen auf und sah sich erneut um. Sie befand sich gar nicht mehr in der Stadt! Die braungraue Atmosphäre rötete sich, denn jetzt stieg ein Feuerbogen empor, der sich um eine aschfarbene Scheibe wand. Offenbar war nur das von der Sonne übrig geblieben. Begleitet war diese Erscheinung am Himmel von einem tiefen Grollen und Beben unter ihren Füßen. Selbst der
schwarze Boden rebellierte gegen das, was jetzt das Tageslicht ersetzte.
    In der Ferne sah sie das gespenstische Leuchten eines sondierenden Strahls, der eher der Klinge eines riesigen, durch den Himmel schneidenden Schwerts ähnelte als einem Suchscheinwerfer.
    Ich weiß, was das ist. Der Strahl des Zeugen.
    Das brachte sie dazu, stehen zu bleiben. Sie

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