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Die Stadt am Ende der Zeit

Die Stadt am Ende der Zeit

Titel: Die Stadt am Ende der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Bear
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zermalmt und verdichtet worden – das schien die einfachste Möglichkeit auszudrücken, was sie erlebt hatten –, und vielleicht hieß das, dass die Vergangenheit ihrer Besucher sie eingeholt hatte und jetzt mit allem rings um die Kalpa kollidierte und verschmolz.
    »Was geschieht als Nächstes?«, fragte Herza. Es war ihre zweite Frage auf diesem Marsch.

79
Das grüne Lagerhaus
    Jack lehnte sich über den Dachrand, um nach Menschen Ausschau zu halten, und stellte fest, dass sich da draußen noch einige befanden. Aber er konnte keine der Hexen aus dem Literaturzirkel entdecken, und es lief auch niemand sonst herum. Die Menschen hatten sich in dunkle Glasskulpturen verwandelt, waren mitten im Gehen oder Rennen erstarrt. Manche standen auch nur da und streckten die Hände hoch, als wollten sie irgendjemanden oder irgendetwas anflehen. »Sind sie alle so?«, fragte Jack.
    Daniel wusste nichts darauf zu erwidern, spürte jedoch einen Stich im Herzen, einen unerwünschten Stich des Mitgefühls. Er konnte durch viele Gebäude hindurchblicken. Deren Innenleben sah so aus, als wäre es mitten im Zusammenprall mit einer anderen Realität erstarrt. Manche der Bauten zerbröckelten bereits, lösten sich langsam auf und verwandelten sich in weiteren schwarzen Staub.
    Er rieb sich heftig die Schläfen und beugte sich nach vorn, um gegen sein Kopfweh anzukämpfen. »Daraus werde ich nicht mehr schlau, Jack. Das hier macht mich platt. Jedes Geheimnis, jedes bisschen Wissen haben wir direkt vor Augen, aber wir können es nicht deuten. Nach dem, was ich noch weiß – viel ist es nicht –, war ich früher ein arrogantes Arschloch. Vielleicht gehöre ich zu Glaucous, und du solltest dich von uns beiden fernhalten. Es tut mir leid, dass ich ihn mit hierhergebracht habe.«
    Jack fiel keine Antwort darauf ein. Ihre Vergangenheit war im wahrsten Sinne des Wortes verschwunden, zerstört, absorbiert,
zu Staub zerfallen. Welche Verantwortung konnten sie jetzt noch übernehmen? Welche Handlungsfreiheit, welche Wahlmöglichkeiten hatten sie denn noch?
     
    Ginny nahm sich nur so viel Zeit, ihren Stein aus dem Kästchen zu holen, das Kästchen zwischen einige schwere Kisten zu werfen, ein Kleiderbündel zusammenzusuchen und eine Dose Bohnen unter dem Bett hervorzuzerren; weitere Lebensmittel würden die anderen kaum entbehren können. Jetzt reichte es ihr: Sie konnte keine weitere Sekunde still sitzen bleiben, konnte nicht noch mehr Zeit damit vertun, darauf zu warten, dass die anderen ihre geheimnisvollen Vorbereitungen abschlossen.
    Den Aufbruch der drei Hexen hatte sie verschlafen. Ellen konnte sie weder im Hauptlager noch bei der Außentür entdecken. Und Jack und Daniel wollte sie nicht begegnen, schon gar nicht Glaucous.
    Oder Bidewell.
    Sie würde das tun, was sie schon immer am besten gekonnt hatte: vom Hauptpfad nach links abbiegen, weiterziehen, die falsche Entscheidung treffen. Es mochte eine Dummheit sein, die Sicherheit von Bidewells Lagerhaus zu verlassen (allerdings hatte sie von Anfang an gewisse Zweifel an dieser Sicherheit gehegt), doch im Augenblick konnte sie die Vorstellung, wieder einzuschlafen und von ihrem anderen, verlorenen Selbst zu träumen, weniger ertragen denn je.
    Sie bahnte sich einen Weg durch die Stapel von Kisten, spürte den trockenen Modergeruch und die seltsame neue Kälte, die durch das hohe, alte Gebäude kroch. Diese Kälte waberte wie unsichtbarer Dampf durch die Räume und Gänge,
legte sich so über die Stahltüren, als hätte sie eine eiskalte Hand berührt, streckte ihre Fühler aus, sondierte …
    Der Stein in ihrer Tasche kam ihr warm und schwer vor. All die innere Leichtigkeit, die sie nach den Stunden in dem leeren Zimmer, nach ihrer Begegnung mit Mnemosyne empfunden hatte, war ihr während des schweren, aber unruhigen Schlafs abhandengekommen, und jetzt spürte sie nur noch eine Verzweiflung, die wie Blei auf ihr lastete.
    Sie stieß die Außentür auf, die so quietschte, dass sie zusammenzuckte, und zog an dem Hebel, der das Tor auf mechanische Weise öffnete, denn Strom gab es ja keinen mehr. Die Kälte auf der Rampe war noch seltsamer und intensiver als im Lagerhaus, und das staubgeschwängerte braune Dunkel jenseits des Tors noch abschreckender, als sie es sich während ihrer Vorbereitungen ausgemalt hatte.
    Aber eine andere Möglichkeit gab es nicht: Trennung und Flucht, in der Hoffnung auf ein erneutes Zusammentreffen – wenn sie dazu bereit, wenn sie reif dafür waren.
    Falls

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