Die Stadt am Ende der Zeit
einem lebenden Fossil zu gleichen. Sein Verstand hatte sich vor mehr als hundert Jahren zu einem einzigen Zweck geschärft und war später, im Lauf der harten Einsätze, wie eine Klinge stumpf geworden. Zwar konnte er den Anschein von Schlauheit erwecken und auf mehr oder weniger bekannte Herausforderungen mit eingeübten Verhaltensmustern reagieren, aber die jetzige Situation überforderte ihn. Bei diesem Spiel waren jüngere Leute gefragt. Er konnte nur das beisteuern, was er in der Vergangenheit schon so oft ins Spiel gebracht hatte: die Umnebelung mit Verheißungen, das Gift von Lügen.
Als die drei Jüngeren abgeschieden von den anderen in Bidewells Hinterzimmern gesessen hatten, hatte er gespürt , dass etwas wie eine leichte Brise durch das Gebäude gestrichen war – Mnemosyne höchstpersönlich, wie er vermutete. Einen Moment lang hatte sich sein Gedächtnis geschärft, so dass er seine Erinnerungen ordnen konnte. Das war fast das genaue Gegenteil dessen, was geschah, wenn er sich im Umfeld des teuflischen Wirbelwinds aufhielt – der Königin in Weiß.
Seine Lippen bewegten sich. Fast lautlos versuchte er sich eine alternative Vergangenheit ins Gedächtnis zu rufen, in der er als kleiner Junge gut behandelt worden war. In dieser Vergangenheit war er zwar nicht mit Reichtum überhäuft, aber zu
einem erfüllten Leben statt zu Knechtschaft erzogen worden. Strenge, aber liebevolle und erfahrene Hände hatten das weiterentwickelt, was in ihm steckte, seine positiven Neigungen gefördert und ihn von den schlechten abgebracht, so dass er in ein normales Leben hineingewachsen war. Vielleicht hätte ihn in dieser Vergangenheit eine schlichte, aber achtbare Frau zum Mann genommen, und es wären Kinder gekommen, über die er – und seine Frau – wachten. Niemals hätte er die Kinder ihr , der Königin in Weiß, ausgeliefert. Zwar konnte er sich nach all diesen Jahren so etwas wie Liebe nicht mehr vorstellen, aber ein vages Bild von gegenseitiger Achtung und tiefem Verständnis füreinander konnte er sich durchaus ausmalen.
Er biss die Zähne zusammen, stand von dem alten Feldbett auf und streifte die Jacke über.
Als die Tür aufging, sah er Daniel und Jack im trüben Licht stehen.
»Das Mädchen ist weg«, sagte Daniel. Hinter den beiden überzogen sich die Kisten und Kartons, die Wände und die Zimmerdecke mit Eis, das sich in Bodennähe nach und nach schwarz färbte.
»Aha.« Glaucous kniff die Augen zu Schlitzen zusammen, legte den Kopf schräg und rieb sich wegen der Kälte die Hände. Er war es gewohnt, sich im Dunkel zu bewegen.
»Wir können sie nicht finden«, erklärte Jack. Als Glaucous dem Jungen forschend ins Gesicht blickte, fand er dort nichts als nervöse Erregung, die für ihn eine vage Verheißung barg: Er würde Jack und Daniel so eng miteinander verbinden, dass sie wie Brüder werden würden – sein letzter, bizarrer Beitrag zu diesem Spiel. Ausgerechnet er würde ein Band des Vertrauens zwischen den beiden knüpfen.
»Ich habe gehört, wie drei der Frauen das Haus verlassen haben«, erklärte Glaucous. »Wo ist die vierte?« Sie ist deinetwegen hiergeblieben, Jack. Kümmert dich das überhaupt?
»Sie ist bei Bidewell im Büro«, erwiderte Jack.
»Wenn wir tatsächlich noch hier sind«, sagte Glaucous, »und so scheint es ja, denn wir gehen hier herum und reden miteinander, dann nehme ich an, dass der Terminus … Ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll, meine Herren. Hat Bidewell uns durch diese undurchdringliche Barriere geschleust?«
Weder Daniel noch Jack gaben ihm Antwort.
Glaucous drängte sich an ihnen vorbei. » Sie wird bald hier sein. Die Kalkfürstin hasst Büchertempel.«
»Was die Kalkfürstin unternimmt, spielt jetzt keine Rolle mehr«, sagte Jack. »Wir sind dort, wo wir sein sollen.«
»Aha. Hat Bidewell euch das erzählt?«
»Jack hat Träume, hast du das schon vergessen?« Daniels Stimme klang so scharf, dass Glaucous mulmig wurde. »Vielleicht weiß er ja mehr als wir darüber, was geschehen wird.«
»Dann sollten wir das Mädchen auf jeden Fall suchen gehen. Jack wird uns führen.«
Sie werden ihre Steine mitnehmen, es wird keiner im Lagerhaus zurückbleiben. Also wird unsere Bleiche Gebieterin kommen, um ihren Anspruch auf Bidewell geltend zu machen. Seine Bücher allein können ihn hier nicht schützen. Und danach wird das geschehen, was sie denen, die ihr dienen, stets versprochen hat …
Nur ein einziges Mal, vor mehr als einem Jahrhundert, war
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