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Die Stadt am Ende der Zeit

Die Stadt am Ende der Zeit

Titel: Die Stadt am Ende der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Bear
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Klinge mit kleinem seitlichem Griff im dunklen Boden steckte. Die Form erinnerte sie an ein Teigmesser. Vermutlich eine Waffe. Warum ist sie hier zurückgeblieben? Wer hat sie in den Boden gerammt?
    Sie beschloss, die Klinge nicht zu berühren und schon gar nicht herauszuziehen. Gut möglich, dass es eine Falle war. Gleich darauf stellten sich ihre Armhärchen auf: Irgendetwas beobachtete sie. Als sie herumwirbelte, wurde ihr schwindelig, denn der ganze Horizont schien zu schlingern … und sie sah plötzlich und zum ersten Mal einen Nachgezüchteten der alten Art vor sich, denn es blieb ihr keine Zeit, den Blick abzuwenden.
    Dieses Geschöpf, das sie für männlich hielt, war weder lebendig noch tot. Und es war nicht allein gekommen.
    Hunderte, die genauso aussahen, krochen oder schleppten sich über den Hügelkamm ins Tal, ein ganzer Strom von Gestalten, alle kleiner als sie selbst. Das Geschöpf vor ihr reichte ihr nicht einmal bis zur Schulter. An all diesen Untoten
hingen Fetzen eines Stoffes, der früher einmal fest gewesen sein mochte. Reste von Schutzanzügen? Sie waren rot, orange, grün und blau, inzwischen jedoch ausgebleicht und so zerschlissen, dass sie wie Papiertaschentücher an den Körpern klebten.
    Kein Zweifel, es waren Marschteilnehmer . Die Gesichtszüge waren erschlafft, wachsweich. Und ihre Augen …
    Sie brachte es nicht fertig, diesen gescheiterten, verlorenen, in etwas Bizarres verwandelten Marschteilnehmern in die Augen zu sehen. Wie Ameisen krochen sie ins Tal hinunter, versuchten etwas in dessen Mitte zu erreichen, ein Bauwerk, das wegen des trügerischen Lichts kaum zu erkennen war. Es sei denn, man drehte sich zweimal um sich selbst, wie sie es jetzt voller Angst tat. Und zwischen den Umdrehungen wich sie durch Sprünge jenen aus, die an ihr vorbeischlurften. Nach der zweiten Umdrehung konnte sie das Ding sehen .
    Wie ein riesiges Gebäude oder eine Burg ragte es mitten im Tal aus einem nicht sonderlich tiefen Trichter auf. Konnte es wirklich so viele Tausend Meter breit und hoch sein? Es schimmerte grünlich und wirkte so kalt wie mit Raureif überzogenes Glas. Sobald sie den Kopf schräg legte oder den Blickwinkel veränderte, konnte sie das Gebäude kaum noch erkennen. Doch wenn sie den Blick mit aller Kraft fokussierte, traten Einzelheiten hervor, und sie konnte deutlicher sehen, wie unermesslich groß dieser Bau war.
    Es musste eine ganze Stadt sein.
    Die gescheiterten Marschierer verhielten sich tatsächlich wie Ameisen: Sie strömten auf den Trichter mit der Stadt zu, glitten hinein und wurden von den Zangen eines Räubers gepackt, der wie ein gigantischer Ameisenlöwe wirkte. Rings um diese
Arena hatte sich ein Publikum versammelt, das einem Alptraum entsprungen schien: reglose Skulpturen, Geschöpfe, die mitten in der Hoffnung auf irgendetwas, mitten in schwungvollen Schritten zu so etwas wie Stein erstarrt waren.
    Eine Lektion in Geschichte.
    Sie schloss sich den Marschierern an. Es war an der Zeit.
    An der Zeit, dort hinunterzusteigen.
    In die trügerische Stadt.

86
Die Kalpa
    Selbst Ghentuns junger Gefährte merkte, wie froh der Hüter war, den Zerstörten Turm endlich verlassen zu können. Bei ihrem Abstieg zu den oberen Stadtvierteln sprachen sie kaum miteinander, und Ghentun machte erst gar nicht den Versuch, den desolaten Zustand der Kalpa vor Jebrassys wachen, neugierigen Augen zu verbergen. Wenn der Bibliothekar Nachgezüchtete schon auf die ihm eigene, selektive Weise ausbilden musste, konnte er als Hüter diese Ausbildung zumindest durch eine bodenständigere Perspektive ergänzen – indem er bewusst den langen Weg nach unten wählte und Jebrassy die inzwischen fatale Lage der Stadt vor Augen führte.
    Jebrassy sagte nur wenig, als sie sich durch die höchsten Stadtviertel und die Ebenen des ersten Bion bewegten, mitten durch das silbern schimmernde, dreidimensionale Netz gewundener Bahnen und Rinnen. Komplexe Oberflächen schnitten durch das Netz, übersät mit Kugeln und hervorstehenden
Teilen, die sich so langsam wie große Schiffe auf einem Meer aus Flüssigkeit bewegten; allerdings ragten viele dieser Strukturen seitlich heraus oder baumelten kopfüber von den gewundenen Bahnen herunter. Angesichts dieses Netzes, das früher einmal übernatürliche Macht und Vermessenheit ausgedrückt haben musste und jetzt als Opfer eines entsetzlichen Verhängnisses zusammengebrochen war, überlief Jebrassy ein Schauer.
    Die Übergriffe des Chaos hatten alle Ebenen der

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