Die Stadt am Ende der Zeit
ausgehärtet«, erklärte das Epitom. »Dann kann ich da draußen eine gewisse Zeit überleben. Aber ich werde eine Art Schutz brauchen, genau wie ihr. – Wie wunderbar!«
»Wie sollen wir dich nennen, Eidolon?«, fragte Ghentun, der so verwirrt war, dass er auf höfliche Manieren zurückgriff, die
hier einigermaßen bizarr wirkten. Die alten Umgangsformen hatten eindeutig ausgedient. Soweit er wusste, hatte sich kein Großes Eidolon jemals in ursprüngliche Substanz zurückverwandelt. Es kam ihm wie ein Affront vor – wie der Verstoß gegen ein Tabu und zugleich wie ein Angriff auf die Privilegien der niedrigen Arten.
»Bitte nennt mich Polybiblios. Der Herkunft nach bin ich männlich, deshalb trete ich lieber als ein ER auf als ein ES, auch wenn Letzteres angemessener sein mag. Allerdings ist uns allen die echte Sexualität offenbar abhandengekommen, nur unser junger Freund hier mag diesbezüglich eine Ausnahme darstellen.«
Jetzt war es an Jebrassy, peinlich berührt zu reagieren.
»In bestimmter Hinsicht bin ich wahrscheinlich der beste Teil des Bibliothekars – zumindest werde ich mir das vormachen, bis man mir das Gegenteil beweist. Darf ich mich euch jungen Marschierern anschließen? Ich verspreche auch, mich auf meine Weise in Demut zu üben. Vielleicht kann ich mich sogar als nützlich erweisen, wie dieser wunderbare Finger.«
Ghentun versiegelte die Handschuhe und verschränkte die Hände auf dem Rücken.
Mit entzückter Miene setzte sich das Epitom in den Sand, nahm eine Handvoll grauen Kies auf und ließ ihn durch die weichen Finger rinnen.
Jebrassy hatte eine seltsame Zuneigung zu dem Teil des Bibliothekars gefasst, der ihm im Turm Gesellschaft geleistet und Unterricht erteilt hatte. Aber ihn hier draußen in fester, fleischlicher Gestalt vor sich zu sehen, in einem Körper, der etwa so groß war wie sein eigener … Das empfand er als äußerst verwirrend. »Auf welche Weise könntest du uns nützlich sein?«, fragte er.
»Ich habe das hier mitgebracht.« Polybiblios hielt ein graues Kästchen empor. »Ohne das hier … wird nichts passieren, jedenfalls nichts Wichtiges. Alles wird einfach zu Ende gehen. Und nach so langer Zeit wäre das wirklich schade.«
87
Das Chaos
Es kam ihnen so vor, als marschierten sie schon Jahre. Ihr Leben lang.
Schritt für Schritt passten sich die Marschierer dem schrecklichen Chaos an, begannen ihrerseits gegen die Regeln zu verstoßen und erlangten durch neue Erfahrungen wachsende Reife. Inzwischen waren sie Experten darin, Passwege zu überqueren und manchmal sogar darauf entlangzulaufen. Offenbar konnte man die Reaktionen dieser Pässe in gewisser Weise voraussehen. Wenn keine Reisenden in der Nähe waren – denn auch andere und noch seltsamere Geschöpfe als die dahingleitenden Schweigenden nahmen diese Wege –, waren die Pässe hart und so glatt wie Glas. Doch wenn sich Reisende näherten, lange bevor sie in Sichtweite der Marschierer waren, verwandelten sich die Pässe in eine gummiartige Masse, die an ihren Stiefeln kleben blieb. Meistens hatten sie noch mehr als genügend Zeit, zur einen oder anderen Seite zu krabbeln und sich im Schutt zu verstecken.
Das ganze Chaos ähnelte einem Müllhaufen. Überall, wo sie hinzogen, lagen zerstörte, ausrangierte Objekte herum, und fast immer waren sie mit einer schwärzlichen Kruste überzogen
und befanden sich, aller Lebenskraft beraubt, im Zerfallstadium. Es gab hier jede Menge Orte, an denen sich ein Marschteilnehmer verstecken konnte.
Seit Perf hatten sie keinen Gefährten mehr verloren, aber das war reines Glück. Sie hatten mehr als genügend Spuren von vernichteten und umgewandelten Marschierern gesehen.
Dort, wo das Chaos nicht lückenlos herrschte und einige der alten Regeln noch galten, setzten sie, sofern die Schutzpanzer keine Einwände erhoben, die Helme während der kurzen Ruhepausen ab und atmeten die Reste der uralten Erdatmosphäre ein.
Das war zwar nicht angenehm, aber doch eine Abwechslung, die die nervende Eintönigkeit des ständigen Wandels, des Unvorhersehbaren und oft genug auch Unbeschreiblichen unterbrach.
Ihr Marsch hatte sie ins Umfeld von Bauten geführt, in denen sich der Schwachsinn des Typhon am prunkvollsten verewigt hatte. Für das, was sie sahen, erfanden sie eigene Namen: Die Schrecklichen Wichtigtuer, Der Große Scheiterhaufen, Der Graben ohne Ausweg, Die Endstation für Gleiter. Diese Endstation war eine Art Friedhof; auf dem riesigen Areal lagerten verschlissene,
Weitere Kostenlose Bücher