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Die Stadt am Ende der Zeit

Die Stadt am Ende der Zeit

Titel: Die Stadt am Ende der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Bear
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über einen Verlust, der weit über das Schwinden einer einzigen Welt hinausreichte. Dieser Verlust betraf die ganze Geschichte.
    »Hast du dein Buch?«, fragte Bidewell und stand auf.
    »Ich dachte, die Bücher könnten jetzt nichts mehr ausrichten. «
    »Diese schon. Sie erzählen immer noch unsere Geschichten. «
    »Was machen wir damit? Lesen wir laut daraus vor?« Ellen holte ihr Buch aus der Tasche.
    Etwas – weder feste Gestalt noch Wolke – bewegte sich zwischen den umgestürzten, mit Eis überzogenen Kisten und Kartons, wirbelte um imaginäre Ecken herum, wandte sich in Richtungen, in die ihm kein Auge folgen konnte, strahlte ein düsteres Spektrum von Gefühlen aus.
    Auf Bidewells Wink hin schlugen sie die Bücher auf, drückten sie sich an die Brust und beugten sich vor, so dass ihre Köpfe und Hände einander berührten.
    Leise und stoßweise drang ein Laut zu ihnen herüber, wie eine Klage aus tiefen Höhlen. Rachel, die bis in alle Ewigkeit um ihre verlorenen Kinder weinte.
    »Sie ist blind«, sagte Ellen. »Blind vor Trauer.«
    »Bedauere sie nicht vorzeitig«, entgegnete Bidewell. »Bei ihr ist alles das Gegenteil von dem, was man erwarten würde. Trauer ist Freude, und selbst ihre Blindheit ist eine besondere Art zu sehen.«
    »Ist sie das?«, fragte Ellen, während der Schatten sie einhüllte. Es war so, als schwebe das Zimmer über einem Abgrund.
    Bidewell öffnete den Mund, konnte jedoch nicht mehr Luft holen. Und eine Antwort war auch gar nicht mehr nötig: Die Königin in Weiß war bis zu ihnen vorgestoßen und versuchte auf ihre Weise, ihnen die Liebe zu erweisen, die sie verdienten.

85
Ginny
    Ginny ließ sich in einer Kuhle des verharschten Bodens nieder, streifte sich die Kapuze ihres Wollmantels über den Kopf und zog die Kordeln so fest zusammen, dass ihr Gesicht größtenteils verdeckt war. Erneut war die bizarre Sonne am Himmel aufgezogen. Als sie von oben herunterstrahlte, merkte Ginny, wie ihre winzige Schutzblase zusammenschrumpfte. Sie konnte fast körperlich spüren, wie sie schwand. Genauso war es, wenn der tödliche graue Strahl über sie hinwegstrich. Es war nicht zu verkennen, dass dieser Himmel und das, was darunter lag, sie nicht mochten.
    Der Stein in ihrer Manteltasche war inzwischen zwar eiskalt, aber sie wagte nicht, ihn loszulassen. Er beschützte sie, da war sie sich sicher. Auf welche Weise er das anstellte, war ihr im Augenblick egal.
    Plötzlich ging ihr ein ganz anderer Gedanke durch den Kopf: Hatte ihre Flucht aus dem Lagerhaus Bidewell und die anderen womöglich in noch größere Gefahr gebracht? Doch jetzt konnte sie nichts mehr daran ändern. Sie hatte ihre Entscheidung getroffen, in der vagen Hoffnung, jemand würde ihr vielleicht nachgehen und sie zur Rede stellen. Als sie genauer darüber nachdachte, wurde ihr klar, dass es nur jemand sein konnte, der selbst einen Stein besaß, entweder Jack oder Daniel, vielleicht auch beide. Aber würden sie auch Glaucous mitbringen? Das wäre ja wirklich pervers. Es war schon ein seltsames Trio, das sie zusammen bildeten!
    Nachdem sie sich ein paar Minuten ausgeruht hatte – zumindest kam es ihr so vor, als wären es nur wenige Minuten
gewesen –, spähte sie über den Rand der Kuhle und spürte dabei erneuten Kontakt mit Tiadba, diesmal sogar in hellwachem Zustand. Sie waren sich jetzt näher als früher. Sie wusste es schon seit einiger Zeit, begriff aber nicht, was es bedeutete. In welcher Hinsicht näher ? Ihre Welten waren miteinander verschmolzen, so viel hatte sie sich zusammengereimt. Obwohl ihr das unmöglich vorkam, fand sie keine andere Erklärung. (Nicht dass diese »Erklärung« die Situation begreiflicher machte!)
    Trotz all ihrer Torheiten und »schlechten« Entscheidungen hatte Ginny die Vernunft stets hochgehalten, und deshalb führte sie jetzt zum zehntausendsten Mal Gründe dafür an, dass all dies unmöglich wirklich geschehen konnte. Ihre Zweifel an der Realität der Ereignisse beherrschten sie so, als stoße sie mit der Zunge ständig und zwanghaft gegen einen abgebrochenen, schmerzenden Zahn. Wenn hier keine der bekannten Regeln mehr galt, was blieb dann noch übrig? Zauberei? Willenskraft? Die Kraft der Integralläufer, deren Entstehung und Wirkungsweise auf wissenschaftlichen oder anderen Erkenntnissen beruhen mochten, die ihr unbekannt waren?
    Letztendlich war ihr klar, dass es keine hinreichende Erklärung gab. Jetzt kam es nur noch darauf an, zu überleben und die Sache zu Ende zu bringen.

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