Die Stadt am Ende der Zeit
Bibliothekars darstellte. Polybiblios schien Wissen geradezu auszuströmen. Stunde um Stunde flossen Jebrassy neue wichtige Erkenntnisse oder Visionen zu. Er lernte dabei so viel über Geschichte und Wissenschaft, dass sein altes Selbst sich mit der Zeit zur Seite geschoben und vernachlässigt vorkam.
Auch Ghentun erkannte, welchen Einfluss das Epitom ausübte, und machte seiner Sorge Luft. »Ständig sickern Informationen aus dir heraus«, sagte er zu Polybiblios, während sie eine Pause einlegten und die Helme absetzten, um auszuruhen und die Veränderungen im Chaos ringsum einzuschätzen. »Bald werden wir überlaufen.«
Das Epitom hockte sich neben sie. Seine Bewegungen wirkten jetzt sicherer, weniger linkisch, obwohl es hier auf jede Unterstützung des Zerstörten Turms und der zahllosen Diener und Versionen des Bibliothekars verzichten musste. Nach und nach hatte es sich eine ganz eigene Art von Agilität angeeignet, eine Anmut, die Ghentun an ein Angelin erinnerte, was ja nicht sonderlich überraschend war. »Tut mir leid. Ich werde mich bemühen, meine Großzügigkeit, was Informationen betrifft, in Grenzen zu halten.«
»Mir macht es nicht viel aus«, sagte Jebrassy leise und starrte auf wechselnde Wellenlinien im Gestein. »Ich brauche nur etwas Zeit, um all das zu verdauen. Ich muss über die Dinge nachdenken, nur dann kann ich sie mir zu eigen machen.«
»Versteht sich«, erwiderte Polybiblios. »In den alten Zeiten hätten die Philosophen ein Fragespiel mit ihren Schülern oder Dienern veranstaltet. Denn die Philosophen behaupteten, jede Frage beschwöre früheres Wissen herauf, natürliche, angeborene Instinkte. Du spürst vielleicht nicht nur Informationen aus mir ›heraussickern‹, sondern es kann auch sein, dass all das schon in dir liegt und jetzt zur rechten Zeit zutage tritt.«
Ghentun wandte den Blick ab und schüttelte den Kopf. »Du hast uns vom Kurs des Leitstrahls abgebracht. Warum?«
»Wir werden den Leitstrahl wiederfinden, keine Sorge. Er wurde schon vor langer Zeit so manipuliert, dass er auf Irrwege führt, müsst ihr wissen. Kurz nachdem meine Tochter verschwand und Sangmer – der später verschollen ist – aufbrach, um sie zu suchen.«
Jebrassy war so bestürzt, dass ihm das Gesicht entgleiste. »Wieso?« Seine innere Stimme sagte ihm, der Leitstrahl müsse immer noch intakt sein; schließlich war er das Einzige, das sie nach Nataraja führen konnte, zu dem ihnen bestimmten Ziel, und letztendlich der Grund, warum man die Nachgezüchteten überhaupt in die Welt gesetzt hatte. »Das kann doch gar nicht sein. Wer würde so etwas tun?«
Auf ihre unverhüllte Wut reagierte das Epitom mit dem Ausdruck schicksalsergebener Melancholie, was dem Abkömmling eines derart alten Eidolon keineswegs schwerfiel. Mit der Antwort ließ es sich Zeit. »Ich kann mich ja kaum noch an mein eigenes Kind erinnern«, sagte er schließlich. »Soweit man sie überhaupt als mein Kind bezeichnen kann, denn es waren ja so viele an der Erschaffung beteiligt.«
»Wir kennen die Geschichte«, warf Jebrassy ein.
»Es gibt so viele Versionen dieser Geschichte. Vielleicht liegt die Wahrheit für immer in dem Geröll begraben, das die Fundamente der Kalpa stützt. Man muss diese zahllosen Versionen mit den Bruchstücken der Erinnerung vergleichen, die ich bewahren konnte.«
Jebrassy senkte den Kopf und umkreiste das Epitom, dessen Blicke ihm gelassen, wenn auch ein wenig ängstlich folgten, mit großer innerer Wut. »Meine Leute sind da draußen«, knurrte er. »Und sie sterben dort oder erleben noch Schlimmeres. Und all das ohne jeden Grund? Nur weil ein Eidolon sich nicht mehr erinnern kann und es den anderen egal ist?«
»Keineswegs. Bei den Eidola dient alles einem bestimmten Zweck, manchmal auch mehr als einem. Mein größeres Selbst wusste, welche Züge das Chaos mit der Zeit annehmen würde – dass es nach und nach zusammenschrumpfen würde. Jetzt weist der Leitstrahl in die Richtung, in die wir tatsächlich gehen müssen. Endlich ist er auf dem richtigen Kurs. – Setz dich!« Er klopfte mit dem Handschuh auf den Boden.
Mit unverminderter Wut, inzwischen jedoch beherrschter, blickte Jebrassy vom Epitom zu Ghentun und wieder zurück. Bedeutete das, dass alle früheren Marschierer niemals eine Chance gehabt hatten? Dass man sie geopfert hatte, um das Chaos abzulenken und zu täuschen, und sich derweil auf eine Zukunft vorbereitet hatte, in der ein paar Auserwählte erfolgreich ans Ziel gelangen
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