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Die Stadt am Ende der Zeit

Die Stadt am Ende der Zeit

Titel: Die Stadt am Ende der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Bear
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ohne den Schutz der Panzer, wanden sich im Griff der Schweigenden hin und her und bewegten die Lippen, auch wenn niemand sie hören konnte. Die Schweigenden nahmen den neuen Pass, um ihre winzigen Bürden so schnell wie möglich zum Mittelpunkt des Tals zu schaffen. Tiadba, die langsam hin und her schwang, konnte im Licht der aufblitzenden Spiralen erkennen, wie die Riesen sich sammelten, die grünliche Masse unterhalb des schwebenden Eisbergs sich zerteilte und grobe Kanten und zackige Formen herausbildete. Der Typhon war dabei, das uralte Ziel ihrer Sehnsüchte, ihr strahlendes Wunschbild zu entweihen und zu verhöhnen. Als seine lichtdurchlässigen Jadetürme und Kuppeln sich im ganzen Tal ausbreiteten, wusste sie es einfach, erkannte zum ersten Mal, was hier früher einmal gewesen war und nun nie mehr sein würde.
    Von Anfang an war das hier das Ziel meiner Reise.
    Der Ort, zu dem man die Marschierer brachte, war das vom Typhon heimgesuchte, für immer verlorene Nataraja – die Trügerische Stadt .

95
    Es war ein Traum, dessen war Ginny sich gewiss. Ein Traum, den jemand anderes träumte, und dieser Traum war überaus angenehm.
    Sie bestand aus zwei Personen, die sich einen Körper teilten. Über ihnen wölbte sich ein Himmel voller Wolken, durch die hier und da strahlendes Blau blitzte. Wie mit großzügigen Pinselstrichen auf eine Leinwand gebannt, erstreckten sich im Vordergrund sanfte Hügel bis zu einem klar umrissenen, freundlichen Horizont. Sie befand sich tatsächlich auf Thule, der mythenumrankten, wundersamen Insel, nur hundert Seemeilen nördlich von Irland. An dem Ort, den sie sich bei ihrer Begegnung mit Mnemosyne ausgemalt hatte. An dem Ort, zu dem ihr Mnemosyne freundlich, aber bestimmt den Zugang verweigert hatte.
    Natürlich war dieses Thule noch nicht in allen Einzelheiten vollendet. Sie musste sehr genau hinsehen, um ihrer Vision greifbare Realität zu verleihen. Wenn sie die Vegetation zu ihren Füßen betrachtete – es mochte irgendein Gestrüpp, Heide, Ginster oder irgendetwas anderes mit violetten Blüten sein –, gelang es ihr mit einiger mentaler Anstrengung – klick –, den Blüten zur Realität zu verhelfen.
    »Hier ist es wunderschön. So was hab ich noch nie gesehen«, murmelten ihre Lippen ziemlich undeutlich.
    Und jenseits dieser Lippen mit Eigenleben fragte sich Ginny: »Wer träumt hier eigentlich wen?«
    »Gut möglich, dass du diejenige bist, die träumt. Bestimmt kennst du diesen Himmel, diese Hügel und Büsche. Ich nicht.«
    »Was ich kenne, kennst auch du. Aber ich kann mich nicht an deinen Namen erinnern.«
    »Im Augenblick brauchen wir noch keine Namen. Ich befinde mich an einem grauenhaften Ort. Doch manchmal gelingt es mir zu schlafen. Und dann können wir wieder zusammen sein. Komm mich holen, finde mich, ehe es zu spät ist. «
     
    Noch während sie aufwachte, schüttelte Ginny irritiert den Kopf und rappelte sich aus der Hocke hoch. Der kurze Traum hatte sie aufgemuntert, ihr vielleicht auch neuen Mut gegeben. Bis jetzt hatte sie vom Ende ihres seltsamen Spaziergangs nur Trauer, Kummer und Schmerz erwartet. Sie rieb sich die kalten Hände und streckte sie gleich darauf aus, um zu prüfen, wie weit die Schutzblase reichte.
    Bis hierher und nicht weiter!
    Das Hier und Jetzt besaß mehr Wirklichkeit als ihr Traum und war längst nicht so angenehm.
    Sie stand unmittelbar vor einer großen Klamm in den Bergen. Und die Schlucht flankierten zwei riesige Figuren, die sie lieber nicht aus der Nähe betrachten wollte. Sie schienen zu einem anderen Ort zu gehören und aus fremdartiger Materie zu bestehen, aus Substanzen, die unter bestimmten Bedingungen vermutlich besondere Kräfte entfalten konnten. (Was auch immer das heißen mag!)
    Langsam drehte sie sich auf ihren Absätzen wie ein Kreisel um sich selbst, zweimal, wie sie es auch getan hatte, als sie damals im Wald mit dem Riss in der Zeit konfrontiert worden war, und spürte, wie die dunkle, körnige Landschaft sich mit ihr drehte. Jetzt stand sie vor einer anderen Spalte in den hohen zerklüfteten Felsen, auch diese flankiert von zwei versteinerten
Figuren, die zwar anders, aber genauso seltsam aussahen wie die früheren. Als sie sich nochmals zweimal um sich selbst drehte, fand sie sich vor einer dritten Klamm und einem dritten Wächterpaar wieder, doch dieses schien sich nicht sonderlich gut zum Wachdienst zu eignen: Beide wirkten wie bunt angemalte Tonfiguren, wie man sie hin und wieder als Türdekor zu sehen

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